Linke Jugendliche und ihr Infocafé sind über Jahre Zielscheibe rechter Gewalt in Angermünde
Die Erfahrung brutaler rechter Angriffe in den 1990er Jahren prägen eine ganze Generation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Ostdeutschland. Die Bedrohung durch Neonazis richtet sich gegen alle, die nicht in ihr Weltbild passen: alternative, nicht-rechte Jugendliche, Migrant*innen, Wohnungslose. In Angermünde organisieren sich junge Menschen und gründen ein linkes Jugendprojekt: das Infocafé Angermünde. Obwohl wiederholt Anschläge auf den Klub verübt werden und es permanent Angriffe von Naziskinheads auf die Besucher*innen gibt, erkämpfen sie sich ihre Freiräume und setzen ihre eigene Vorstellung von solidarischem Leben und Kultur um.
„Alle würden lügen, wenn man sagen würde, man hat keine Angst gehabt.“
Holger Zschoge, Christian Theuerl, Susanne Lang, Christin Meile, Bethi Ngari, Said und Micha erinnern sich an die Gewalt Anfang der 1990er Jahre in Brandenburg
In den Kleinstädten Ostdeutschlands folgt auf den Optimismus nach dem Mauerfall schnell die Ernüchterung. Die Wiedervereinigung bringt den Verlust vieler Arbeitsplätze; Jugendklubs und Kultureinrichtungen werden geschlossen. Angermünde, eine Kleinstadt in der Uckermark, hat Anfang der 1990er Jahre etwa 11.000 Einwohner*innen. Die Region gilt als strukturschwach.
Die meisten Erwachsenen sind mit den Auswirkungen der Wende beschäftigt, kämpfen mit Job- und Identitätsverlust, müssen ihr Leben neu organisieren. Außerschulische Angebote für Jugendliche gibt es kaum.
Gleichzeitig etablieren Neonazis ihre Strukturen und ihren Einfluss mit großem Erfolg. Vor allem Teenager und junge erwachsene Männer sind nun Naziskinheads, sie tragen deren Symbole wie Springerstiefel, Bomberjacken und Aufnäher – und sie sind extrem brutal und gewaltbereit.
1993 gerät das nur 20 km von Angermünde entfernte Schwedt/Oder international in die Schlagzeilen. Schon kurz nach der Wende fassen rechtsextreme Parteien wie die Republikaner (REP) und die „Deutsche Volksunion“ hier Fuß. Auch die in Westdeutschland gegründete „Nationalistische Front“ (NF) ist in Schwedt aktiv. Die 1992 wegen ihrer offen rechtsterroristischen Strukturen verbotene NF arbeitet gezielt am Aufbau einer militanten Neonazi-Bewegung in Ostdeutschland. Nach dem Verbot bleiben die NF-Kader in Schwedt weiter aktiv und nennen sich nun SrA (Sozialrevolutionäre Arbeiterfront). Die Stadt entwickelt sich in dieser Zeit zu einer Hochburg der extremen Rechten mit mehreren Hundert Aktivist*innen und wird zur Angstzone für alle, die sich nicht der Vormachtstellung der Neonazis unterwerfen wollen.
Schlagzeilen 1993
Neonazis und rechte Jugendliche dominieren die Jugendklubs der Stadt. Der Aufbau einer rechtsextremen Jugendkultur wird in Schwedt nicht nur toleriert, sondern direkt gefördert. So stellt die Stadt der „Nationalen Jugend Schwedt“ einen eigenen Raum in einem städtischen Freizeitzentrum zur Verfügung. Das Jugendamt schreibt Briefe an die „Nationalistische Jugend Schwedt – Freizeittreff HIT“ und lädt deren Vertreter zu offiziellen Gesprächsrunden über die Jugendarbeit der Stadt ein.
Von Politik, Medien und Sozialarbeit wird den Neonazis als „unseren Kindern“ viel Verständnis entgegengebracht. Einfühlsam werden ihre Lebensumstände durchleuchtet, und man sieht sie, die Täter, als die eigentlichen Opfer: Opfer der Wende, einer damit einhergehenden Orientierungslosigkeit, Arbeitslosigkeit oder der Modernisierung. Ihre rassistischen und rechten Gewalttaten seien doch nur ein „Schrei nach Liebe“. Eine städtische Sozialarbeiterin erklärt in einer TV-Dokumentation:
„Wir stellen uns ganz bewusst an die Seite derer, die im Volksmund die Bösen sind, weil, so böse sind sie nämlich gar nicht.“
Auf einem „Spiel- und Tobeplatz“ im Wohnkomplex VI wird am Abend des 16. September 1991 Wolfgang Auch von acht Jugendlichen zusammengeschlagen. Die rechte Gesinnung der Jugendclique ist offenkundig, der Tatort gilt als deren Treffpunkt. Ihr Tatmotiv: Sozialdarwinismus und Ableismus. Wolfgang Auch stirbt eine Woche später an zahlreichen Verletzungen.
Erst im März 1993 verurteilt das Bezirksgericht Frankfurt (Oder) sieben der Täter zu Bewährungsstrafen zwischen acht Monaten und zwei Jahren. Daniel K., der den tödlichen Tritt gegen den Kopf geführt haben soll, ist aufgrund seines Alters nicht strafmündig. Veit S. bekommt die höchste Strafe mit zwei Jahren auf Bewährung.
Vor Gericht spielen rechte Bezüge keine Rolle, trotz Stellungnahme der Jugendgerichtshilfen und psychologischer Gutachten, welche die Täter klar in der rechten Szene der Stadt Schwedt/Oder verorten. Hintergrund
Alternative Jugendliche sind regelmäßig Ziel neonazistischer Überfälle. Anfang 1993 wird ein Jugendlicher niedergeprügelt. Als er regungslos am Boden liegt, treten und schlagen die Angreifer weiter auf ihn ein. Er liegt fast zwei Wochen im Koma und insgesamt 14 Wochen im Krankenhaus. Am 18. September 1993 holen Neonazis einen Lehrer, der an seiner Schule offen gegen Rechtsextremisten aufgetreten war, aus einem Rockkonzert und prügeln ihn krankenhausreif. Sie drohen: „Halte dich raus bei der Antifa, sonst kommen wir wieder.“ Zwei Wochen muss er im Krankenhaus bleiben, weder der Schuldirektor noch Kolleg*innen besuchen ihn. Auch aus der Stadtverwaltung gibt es keine Stellungnahme.
Für die erste neun Monate des Jahres 1993 notiert der Polizeibericht in Schwedt und Umgebung 96 Taten mit rechtsextremistischem Hintergrund. Das sind drei Viertel aller in Schwedt verübten Straftaten (vgl. taz, 9.11.1993). Die Polizei vertritt dennoch öffentlich „die Auffassung, dass es keine organisierten rechtsradikalen Strukturen in Schwedt gibt“ (MOZ, 30.09.1993).
Die erste Antifa-Demo in Schwedt
Ein Bündnis von Antifa-Gruppen aus der Uckermark und Berlin ruft im Juni 1993 zu einer Demonstration in Schwedt auf. Etwa 400 Menschen folgen dem Appell und demonstrieren »Gegen faschistischen Terror und Neonazi-Propaganda! Gegen den braunen Gürtel um Berlin!«.
Ein großes Polizeiaufgebot begleitet die Demo, um die Stadt nach eigenen Angaben „vor autonomen linksextremistischen Krawalltouristen“ zu bewahren.
Die Polizei hindert die Rechten nicht daran, die Demonstrant*innen zu beobachten, zu filmen und zu fotografieren. In den Tagen danach kommt es vermehrt zu Überfällen auf Demoteilnehmer*innen. Über einen der gefilmten Jugendlichen schreibt die taz:
„Zwei Tage später warten gut 20 Schläger auf ihn nach dem Sportunterricht. Sie treten mit Stiefeln in sein Gesicht. Zwei Tage liegt er mit schwerer Gehirnerschütterung auf der Intensiv-, danach eine Woche auf der Unfallstation. Die diensthabenden Polizisten geben Volkers Eltern den Tip, statt Anzeige zu erstatten das Schiedsgericht anzurufen.“
In Angermünde entziehen sich Jugendliche dem zunehmenden rechten Einfluss und bauen eigene Strukturen auf. Einige engagieren sich in der „AG Junge Genossen“ der damaligen PDS. Aber nicht alle haben Lust auf Parteistrukturen. Holger Zschoge war als junger Lehrer aus Ostberlin nach Angermünde gekommen. Zusammen mit anderen kämpft er um Räume für einen selbstbestimmten und selbstverwalteten Treffpunkt in der Stadt. Sie setzen sich durch: 1993 eröffnet das erste Infocafé in Angermünde. Von Anfang an müssen die Jugendlichen diesen Freiraum gegen rechte Angriffe verteidigen.
„Wir sind viele Leute, wir brauchen einen Treffpunkt.“
Christian Theuerl, Holger Zschoge und Susanne Lang erzählen vom Infocafé und der Notwendigkeit, das Gebäude gegen Angriffe zu sichern.
Das erste Infocafé „Rote Oase“
Nach kurzer Renovierungsphase eröffnet das neue Infocafé im Juni 1993. In Eigenregie hatten die Jugendlichen die Räume gestrichen und ein paar alte Möbel besorgt. Die Baracke in der Puschkinallee soll ein neuer Treffpunkt werden und auch ein Veranstaltungsort für Konzerte, Lesungen und Diskussionsrunden.
Infocafé Angermünde 1993, Foto: Archiv INWOLE
Von Anfang an Zielscheibe
Direkt am ersten Tag nach der Eröffnung des neuen Infocafés werden zwei Besucher von rechten Schlägern angegriffen und verletzt. Diese Angriffe gehören von da an zum Alltag. Ein Flugblatt mit einer Chronik der ersten Wochen nach der Café-Eröffnung macht diese Vorfälle öffentlich. Die Beschreibung der Taten verdeutlicht, wie brutal und zielgerichtet die rechten Schläger vorgehen. Sie zeigt auch das Ausmaß der Bedrohung von allen, die sich nicht dem rechten Weltbild unterordnen wollen.
Chronik der Angriffe, erstes Halbjahr 1993 in Angermünde, Archiv INWOLE
Infocafé Angermünde 1993, Foto: Archiv INWOLE
In einem offenen Brief richten sich die Jugendlichen des Infocafés an die Stadtverordneten von Angermünde mit der Bitte um Unterstützung und der Sorge um ihre Sicherheit.
Am 3. Juli 1993 eskaliert die Situation erneut. Zwei Wochen nach der antifaschistischen Demo in Schwedt ist im Infocafé Angermünde eine Party geplant. Schon am frühen Abend fahren Neonazis in der Stadt „Streife“, beobachten das Café und sammeln sich nicht weit entfernt. Der Bürgermeister befürchtet Auseinandersetzungen und ruft die Polizei. Aus Angst vor einer Stürmung durch die Rechten errichten einige Punks eine Barrikade aus Stühlen und Tischen vor dem Eingang des Cafés.
Infocafé vor Räumung 1993, Foto: Archiv INWOLE
Als die 50 Beamten anrücken, stellen sie sich nicht zum Schutz des Jugendklubs auf, sondern mit Helmen, Schilden und Knüppeln ausgerüstet frontal davor. Inzwischen haben sich 60 bis 70 Neonazis und viele Schaulustige versammelt. Anstatt sie vor einem rechten Überfall zu schützen, droht die Polizei nun mit der Räumung des Infocafés. Einige Besucher*innen können das Café unbemerkt durch den Hintereingang verlassen. Die anderen werden unter dem johlenden Gelächter und Applaus der Skinheads einzeln abgeführt.
Die Beamten schicken zwei minderjährige Mädchen nach Hause, um ihre Ausweise zu holen. Sie müssen durch die johlende Menge hindurch und bitten um Geleitschutz – der wird jedoch abgelehnt. Vor den Augen der Polizei greifen zwei Skinheads die Mädchen an. Niemand greift ein. Eine 16-Jährige muss danach mit dem Verdacht auf ein Schädel-Hirn-Trauma stationär im Krankenhaus behandelt werden. Die Polizei ermittelt die Täter nicht. Auch eine Anzeige gegen den Einsatzleiter der Polizei wegen unterlassener Hilfeleistung wird eingestellt. (vgl. Tagesspiegel, 11.7.1993)
3.7.1993, Polizei räumt Infocafé
Konzerte, Lesungen und Diskussionsveranstaltungen: Die Aktivist*innen lassen sich nicht einschüchtern und organisieren weiterhin Sommerfeste oder gemeinsame Newroz-Feiern mit Geflüchteten aus dem nahe gelegenen Wohnheim in Prenzlau. Vegetarische Kochkurse, Fahrradreparatur, Basketballturniere: Das Infocafé entwickelt sich zu einem Treffpunkt für alle, die sich dem rechten Mainstream nicht anschließen wollen und sich selbstbestimmt für eine solidarische Gesellschaft einsetzen. Es gibt enge Verbindungen zu anderen Initiativen in der Region – ein Netzwerk entsteht.
„Sich bunt anziehen, einen Iro schneiden – damit fiel natürlich auf, dass man anders ist.“
Susanne Lang, Micha, Christian Theuerl und Christin Meile beschreiben Subkultur und Aktivitäten im Infocafé.
Mobbing, Angriffe und die Bedrohung Einzelner durch rechte Jugendliche finden auch in der Schule statt. Die Lehrer*innen reagieren hilflos, mischen sich in der Regel nicht ein. „Politik hat an der Schule nichts zu suchen“, ist eine weitverbreitete Haltung.
Erst wenn die Gewalt direkt in der Schule eskaliert, greifen Lehrer*innen ein. Allerdings benennen sie keine Ursache, beziehen keine Position, sondern bagatellisieren, beschwichtigen und relativieren die Gewalt. Häufig machen sie die angegriffenen Jugendlichen selbst dafür verantwortlich: Sie hätten mit ihrem Aussehen oder ihrem Verhalten die Angriffe provoziert.
Auf einer Faschingsparty am Einstein-Gymnasium in Angermünde erscheinen Schüler*innen 1995 in Ku-Klux-Klan Kostümen, und rassistische Witze sind Teil des Bühnenprogramms. Beides wird toleriert. Einzelnen Schülerinnen wird der Zugang zur Toilette verwehrt, weil es sich um eine „national befreite Zone“ handele. Niemand greift ein.
Einen Eindruck von der Atmosphäre an einer Schule in Angermünde bietet eine Radioreportage von Anselm Weidner. Er dokumentiert den Projekttag gegen Rassismus in einer 7. Klasse der „Ehm Welk Gesamtschule“. Die Kinder reproduzieren rechte Propaganda und rassistische Stereotype. Der Sozialarbeiter reagiert nicht darauf.
„Die Linken klauen der Oma die Handtasche, die Rechten bringen sie zurück.“
Eine Radioreportage über Angermünde von 1999. Der Ausschnitt wurde an einem Projekttag gegen Rassismus in einer 7. Klasse der „Ehm Welk Gesamtschule“ aufgenommen. Die gesamte Reportage findet sich hier: Anselm Weidner „Angermünde und Anderswo – vom alltäglichen Rassismus in Deutschland“
Die Angriffe auf das Infocafé hören nicht auf. Regelmäßig werden die Schutzvorkehrungen an den Türen und Fenstern weiter ausgebaut. An den Wochenenden finden sogenannte „Verteidigungspartys“ statt. Die Jugendlichen versammeln sich im Klub, um auf eventuelle Brandanschläge schnell zu reagieren.
Die Neonazis bedrohen nicht nur linke Jugendliche und Punks. Migrant*innen und Geflüchtete sind ständig mit rassistischer Gewalt konfrontiert. Im nahe gelegenen Prenzlau befindet sich ein Wohnheim für Geflüchtete. Bethi Ngari ist hier seit 1996 mit ihren beiden Töchtern untergebracht. Das Wohnheim liegt abgelegen in einer alten NVA-Kaserne, die Kinder fahren mit dem Bus zur Schule. Der Schulweg ist gefährlich, denn Beleidigungen, Bedrohungen oder Angriffe durch Neonazis finden häufig in öffentlichen Verkehrsmitteln statt.
„Wir wollten unseren Klub nicht aufgeben.“
Micha, Christian Theuerl, Susanne Lang, Bethi Ngari, Said und Holger Zschoge beschreiben die ständige Bedrohung und Angst vor rechten und rassistischen Angriffen.
Am 23. September 1997 um etwa 7:30 Uhr wird der wohnunglose Ernst Fisk mit stark blutenden Kopfverletzungen in Angermünde auf der Straße aufgefunden und ins Krankenhaus gebracht. Die Ursache der Verletzungen bleibt zunächst unklar. Der schwer verletzte Mann ist nicht vernehmungsfähig. Ärzt*innen und Ermittlungsbehörden gehen von einem Sturz aus. Die Ermittlungen gegen Unbekannt werden nach wenigen Monaten eingestellt.
Nach mehrmonatigen Behandlungen und zeitweiligem künstlichen Koma wird Fisk im Februar 1998 in ein Pflegeheim eingewiesen. Er ist intensiv pflegebedürftig, wird über eine Magensonde ernährt und kann nicht mehr sprechen. Am 30. August 1998 stirbt er an einer Lungenembolie.
Erst bei der zweiten Leichenschau im Krematorium kommen Zweifel an der Todesursache auf. Die Staatsanwaltschaft ordnet eine gerichtsmedizinische Obduktion an, die am 16. September 1998 durchgeführt wird. Es dauert sechs Monate, bis das daraus resultierende Gutachten an die Staatsanwaltschaft geschickt wird. Es stellt fest, dass Ernst Fisk durch ein Schädel-Hirn-Trauma vom Mai 1997 schon geschädigt worden war. Erneute Gewalteinwirkung im September hatte eine weitere Hirnschädigung ergeben, die kausal mit dem Todeseintritt zusammenhing.
Das Verfahren wird wieder aufgenommen, nun wegen Körperverletzung mit Todesfolge. In einem Aktenvermerk aus dem Polizeipräsidium Eberswalde heißt es, den Polizeibeamt*innen sei Ernst Fisk schon lange bekannt:
„Er war ein stadtbekannter Obdachloser, der regelmäßig und viel Alkohol trank und ist mehrfach als hilflose Person auf einer Bank im Friedenspark Angermünde festgestellt worden. In geführten Gesprächen mit Fisk äußerte dieser auch mehrfach, dass er von unbekannten Personen geschlagen wurde, die er aber nicht weiter benennen konnte. Fisk wurde öfter mit Verletzungen gesehen. (…) Hinweise zu dem möglichen Täter konnten nicht gegeben werden. Es ist aber bekannt, dass in zurückliegender Zeit wiederholt Jugendliche Diebstahlshandlungen und Raubhandlungen an Obdachlosen und Alkoholikern im Stadtgebiet Angermünde durchgeführt haben.“
Die Staatsanwaltschaft ordnet nun an, sämtliche Beschuldigten aus Verfahren wegen Überfällen und Körperverletzungshandlungen gegen Wohnungslose als Zeugen vorzuladen. Nur aus dem Dienstbereich Angermünde betrifft das 53 Personen. Davon erscheinen 32 zur Zeugenvernehmung bei der Polizei.
Der Bahnhof ist 1997 ein beliebter Treffpunkt einer rechten Skinheadclique. Dazu zählen auch der 16-jährige Matthias E. und der 19-jährige Dennis M. Beide hatten wiederholt Wohnungslose zusammengeschlagen. Einer der beiden gibt an, einmal einen Obdachlosen zusammengeschlagen zu haben, aber nicht zu wissen, ob es der stadtbekannte Ernst Fisk gewesen sei. Die Strafverfolgungsbehörden können jedoch keine Anklage erheben, u .a. weil die Befragten Alibis vorweisen können und ein bestehender erhärteter Tatverdacht gegen die zwei jugendlichen Naziskinheads nicht ausreichend begründet werden kann. Das Ermittlungsverfahren wird letztlich eingestellt. Hintergrund
Geflüchtete in Brandenburg
Seit Anfang der 1990er Jahre werden Geflüchtete nach dem sogenannten „Königsteiner“ Schlüssel auch auf Gemeinden in Ostdeutschland verteilt. Brandenburg nutzt zu ihrer Unterbringung häufig leerstehende ehemalige Kasernen. Die Gebäude sind meist in baulich schlechtem Zustand und befinden sich außerhalb der Ortschaften, abgelegen im Wald.
Für die hier untergebrachten Menschen sind damit schon Alltagsbesorgungen wie Einkaufen oder Schulwege sehr schwierig. Mehrere Hundert Menschen leben in den Heimen ohne Beschäftigung, es gibt kaum Deutschkurse, schlechte ärztliche Versorgung und wenig Kontakt zur Bevölkerung vor Ort.
alle Fotos: Leona Goldstein 2006/2007
Foto: Leona Goldstein
Foto: Leona Goldstein
Foto: Leona Goldstein
Hinzu kommen gesetzliche Sonderregelungen, die das Leben von Geflüchteten einschränken. Sie erhalten kein Bargeld, sondern bekommen nur Gutscheine. Mit diesen dürfen sie nur in festgelegten Läden bestimmte Waren für den alltäglichen Bedarf einkaufen. Telefonkarten zum Beispiel gehören nicht dazu. Auch wenn der Einkauf weniger wert ist, erhalten sie das Restgeld nicht zurück.
Außerdem sind sie in ihrem Bewegungsraum eingeschränkt. Sie unterliegen der sogenannten Residenzpflicht. Es ist ihnen untersagt, ohne Erlaubnis den Landkreis zu verlassen. Geflüchtete erleben permanent Rechtlosigkeit und Ausgrenzung. Die rassistische Debatte um die Einschränkung des Asylrechts Anfang der 1990er Jahre und die „Das Boot ist voll“-Parolen haben einen wesentlichen Einfluss auf den Rassismus der Bevölkerung und die rechten Gewalttäter.
Bethi Ngari und Said leben 1996 im Wohnheim für Geflüchtete in Prenzlau. Das Heim liegt außerhalb, bis zum nächsten Supermarkt sind es acht Kilometer. Bethi ist alleinerziehende Mutter und wohnt mit ihren zwei Töchtern hier. Für Frauen ist die Situation in den Sammelunterkünften besonders schwierig.
„So eine Situation hatte ich in diesem Land nicht erwartet.“
Said und Bethi Ngari erinnern sich an ihre Zeit im Wohnheim für Geflüchtete in Prenzlau.
Rassistischer Angriff auf dem Feuerwehrfest
Im Sommer 1998 führen italienische Spezialisten Mosaikarbeiten am Oberstufenzentrum Prenzlau aus. Vier der Arbeiter besuchen am 22. August 1998 das Feuerwehrfest in Dedelow, ein Dorf bei Prenzlau.
Luca, einer der Italiener, kommt nicht von der Toilette zurück. Seine drei Begleiter finden ihn blutverschmiert, völlig benommen, unfähig zu sprechen. Luca war von zwei Nazi-Skins angegriffen worden. Mit Stahlkappenstiefeln hatten sie seinen Schädel angebrochen. Er ist lebensgefährlich verletzt. Lucas Begleiter Fabiano bittet die Anwesenden um Hilfe.
Niemand hilft
Einige Feuerwehrleute wimmeln ihn ab, Hilfe sei nicht nötig. Sechzig Menschen sind auf dem Fest, keine*r will helfen. Auch der Wirt weigert sich, die Polizei zu rufen. Daraufhin geht einer der Italiener selbst los, um Hilfe zu holen. Draußen setzen ihm die rechten Skinheads nach, angeführt von Martin H. Der Italiener entkommt und benachrichtigt die Polizei. Währenddessen wird Luca V. zum zweiten Mal angegriffen. Mehrere jugendliche Festbesucher, unter ihnen auch Martin H., beschimpfen und verhöhnen den Schwerverletzten und schütten ihm Bier ins Gesicht. Schließlich tritt Martin H. dem Italiener gegen den Hals. Als Luca V. am Boden liegt, flüchten die Angreifer.
Als die anderen Italiener zum Zelt zurückkommen, ist die Polizei schon da, aber noch kein Krankenwagen. Der kommt erst eine Viertelstunde später und bringt Luca in die Klinik nach Eberswalde. Während der gesamten Zeit stehen Festbesucher*innen um die kleine Gruppe von Italienern und Polizisten, feixen und lachen.
Schwere Verletzungen
Im Krankenhaus fällt Luca ins Koma. Er hat mehrere Schädelbrüche und eine Verletzung der mittleren Hirnhautschlagader. Noch ein Jahr später leidet er unter den Folgen. Wenige Tage nach dem Angriff werden Martin H. und David D. von der Polizei festgenommen und legen Teilgeständnisse ab. Martin H. ist zur Tatzeit 19, David D. 17 Jahre alt.
„Der Angeklagte ist der Auffassung, dass er etwas Besseres ist, weil er Deutscher ist .“
Der Prozess
Am 2. März 1999 verurteilt das Landgericht Neuruppin Martin H. zu fünfeinhalb Jahren Jugendstrafe wegen versuchten Mordes und zweifacher Körperverletzung. Er hatte nach seiner Festnahme erklärt, es sei ihm „egal, ob die Sau stirbt“. In der Untersuchungshaft hatte sich der 19-Jährige anschließend den Wahlspruch der Hitlerjugend „Blut und Ehre“ eintätowieren lassen. Vor Gericht streitet er ein rassistisches Motiv ab. Auch sein Skinhead-Aussehen hätte rein modische Gründe gehabt.
David D. wird als „Mitläufer“ zu einer Jugendstrafe von 18 Monaten auf Bewährung verurteilt.
Solidarität und Gegenwehr
Um dem rassistischen Grundkonsens und der Gleichgültigkeit etwas entgegenzusetzen, entstehen an vielen Orten antirassistische Bündnisse. Als Konsequenz aus den Erfahrungen der Schutzlosigkeit ist das Vertrauen in Polizei und Justiz gering. Deshalb organisieren viele Gruppen ein eigenes Netzwerk und Telefonketten, die bei einem rassistischen Angriff aktiviert werden können. Erstmals entstehen auch bürgerliche Bündnisse gegen rechts, teilweise unter Beteiligung von Vertreter*innen aus Politik und Verwaltung. In Angermünde gründet sich Ende 1998 das „Bündnis für eine weltoffene, tolerante und gewaltfreie Stadt“.
Aktion Noteingang
Mit der Aktion Noteingang reagiert ein Bündnis mehrerer Brandenburger Gruppen 1999 auf die Zunahme rassistischer und neonazistischer Übergriffe. Konkrete Anlässe sind rassistische Überfälle am hellichten Tag auf einen Gambier und einen Vietnamesen in Bernau. Die Gruppen wollen Öffentlichkeit herstellen, Solidarität zeigen und die Möglichkeit zur konkreten Unterstützung eröffnen. Die Auswirkungen rassistischer und faschistischer Angriffe sollen dort thematisiert werden, wo die Täter*innen ihre Rückendeckung erhalten – in der Mitte der Gesellschaft.
Die Idee ist einfach: Mit Aufklebern an den Fenstern und Türen können Läden, Tankstellen, Cafés und soziale Einrichtungen signalisieren, dass sie im Fall eines rechten Angriffs Schutz bieten.
Lokale Bündnisse
In insgesamt dreizehn Brandenburger Städten entstehen lokale Gruppen, die sich an dem Projekt beteiligen. Die Jugendlichen suchen Verbündete vor Ort, gehen in die Läden und Einrichtungen, versuchen Unterstützung für das Projekt zu bekommen. Die Reaktion fällt sehr unterschiedlich aus: In den Gemeinden ist die Angst groß, ein Aufkleber könne Sachbeschädigungen oder anderen Ärger provozieren. Diese gemeinsame Aktion führt aber auch dazu, das Netzwerk der beteiligten Initiativen in Brandenburg zu stärken. In einer Broschüre halten die Aktivist*innen ihre Erfahrungen fest. Die Idee wird von vielen Initiativen bundesweit aufgegriffen. Hintergrund
„Die 90er sind für mich echt in Schwarzweiß und diese 2000er, die sind für mich bunt.“
Susanne Lang, Christian Theuerl, Christin Meile, Bethi Ngari und Said erinnern sich an erfolgreiche Aktionen und Aktionsformen.
Das Bündnis verschiedener Gruppen bleibt weiterhin aktiv. Nach der Aktion Noteingang folgt die Aktion Analyse: ein antirassistischer Forschungswettbewerb für Jugendliche im Land Brandenburg. Diesen Fragen wird nachgegangen: Gibt es Treffpunkte von Nazis? Werden alternative Jugendliche aus den Klubs verdrängt? Existieren rechte Strukturen? Wie oft kommt es zu Übergriffen auf Andersaussehende, Andersdenkende, sich anders Kleidende? Wie äußert sich der Bürgermeister dazu? Wie ist die Situation von Flüchtlingen? Wie sind ihre Lebensbedingungen? Wie werden sie auf dem Sozialamt oder der Ausländerbehörde behandelt?
Im April 2002 organisieren Schwedter und Angermünder Gruppen gemeinsam einen Aktionstag gegen Rassismus in Prenzlau. Am Vormittag schon finden die ersten Aktivitäten statt: Mit einem improvisierten Theaterstück am Bahnhof konfrontiert Micha in Fantasieuniform die Reisenden mit der Residenzpflicht.
Aktionstheater gegen die Residenzpflicht für Geflüchtete. Prenzlau, April 2002, Video: Umbruch Bildarchiv
Neben dem Theater am Bahnhof gibt es auch Aktionen im Supermarkt. Unterstützer*innen kaufen mit den Gutscheinen der Geflüchteten ein und geben ihnen im Tausch dafür Bargeld. Durch den Rollenwechsel wird die diskriminierende Zielrichtung dieser Vorschriften deutlich gemacht.
Den Abschluss des Tages bildet ein Konzert der Band Brothers Keepers. Schwarze Musiker*innen hatten das Bandprojekt nach dem rassistischen Mord an Alberto Adriano im Juni 2000 in Dessau initiiert. Der Song Adriano (Letzte Warnung) ist ihr Statement gegen Rassismus und rechte Gewalt.
„Ich will alle Fäuste sehen!“
Konzert der Brothers Keepers in Prenzlau, April 2002, Video: Umbruch Bildarchiv
Denn wir wissen, was sie tun.
Mit einer Broschüre über Rechtextremismus in der Uckermark veröffentlicht ein Autor*innenkollektiv aus dem Infocafé Angermünde im Jahr 2000 eine umfangreiche Recherche über rechtsextreme Strukturen. Rechte und rassistische Angriffe werden systematisch in einer Chronik erfasst. Es gibt Beiträge über die Bedeutung faschistischer Symbolik für die Jugendszene in der Uckermark und Hintergründe über Neonazi-Parteien wie die NPD. Bethi Ngari beschreibt in einem Text die Situation Geflüchteter.
Die Recherchebroschüren aus Angermünde finden bundesweite Beachtung. Sie zeigen die Strukturen und Vorgehensweisen der Rechten auf. Mit diesem Wissen ist es leichter möglich, auf die Entwicklungen zu reagieren und auch einzugreifen. Sie leisten eine Aufklärungsarbeit, die weder von den lokalen Medien noch von den Behörden übernommen wird. Es ist dem Widerstand der antirassistischen und antifaschistischen Gruppen und Initiativen zu verdanken, dass sich der rechte Mainstream in den 1990er Jahren in der Uckermark nicht überall durchsetzen kann.
Marktplatz Angermünde April 2021, Foto: Julia Oelkers
Die Altstadt von Angermünde ist inzwischen saniert und herausgeputzt. Doch ist die Modernisierung nicht in allen Köpfen angekommen. Laut Verfassungsschutzbericht von 2018 gehört die Uckermark zu den Regionen in Brandenburg mit dem höchsten Anteil an Rechtsextremen. Seit 2016 ist „Der III. Weg“, eine neonazistische Kaderpartei, hier aktiv. Die in Baden-Württemberg gegründete Partei erstreckt sich über mehrere „Gebietsverbände“. Der „Gebietsverband Mitte“ wird von Matthias Fischer aus Angermünde geleitet. Die Ideologie des III. Wegs ist nationalsozialistisch, das Parteiprogramm spricht von Überfremdung und entwirft ein rassistisches Gesellschaftsbild.
Die Kampagnen des III. Wegs richten sich vor allem gegen Geflüchtete. Die Neonazi-Kleinstpartei gibt einen Leitfaden zur Verhinderung von Flüchtlingsheimen heraus und veröffentlicht eine virtuelle Karte mit Unterkünften für Geflüchtete in der gesamten Bundesrepublik. In Brandenburg beteiligt sich der III. Weg an rassistischen Aufmärschen und Mobilisierungen. Das Auftreten ist einschüchternd: Die Mitglieder tragen SA-ähnliche einheitliche Kleidung und treten bei Demonstrationen in Marschformation auf. 2019 laufen uniformierte Neonazis des III. Wegs in Angermünde und in Prenzlau „Streife“.
Kundgebung „Der III. Weg“, 1.7.2017 in Angermünde, Foto: Antifaschistische Initiative Eberswalde
Gleichzeitig geben sich die Parteimitglieder gerne als „besorgte Bürger*innen“ aus, die sich für sozial Schwache einsetzen, allerdings nur für Deutsche. In Angermünde organisieren sie Spendenaktionen für das Tierheim oder die „Deutsche Winterhilfe“.
Parteien sind schwerer zu verbieten als Vereine. Der III. Weg setzt auf eine Mischung aus Neonazi-Dominanz und Gewalt und (in Sachsen) auch Kommunalmandate und Bürgerbüros – diese sind beim III. Weg in Brandenburg bisher nicht zu erkennen.
Nach wie vor gibt es Menschen, die sich in der Uckermark für eine solidarische Gesellschaft stark machen, die rechte Propaganda nicht dulden und sich auch von Drohungen nicht einschüchtern lassen. Einige von ihnen engagieren sich schon seit vielen Jahren mit kreativen Aktionen sowie Bildungs- und Empowermentprojekten gegen Rassismus und Neonazismus. Dazu gehören u.a. die Bündnisse in Angermünde, Schwedt, Prenzlau und Templin. Aber es entstehen immer wieder auch neue Strukturen, wie das aus verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen bestehende „Bündnis Uckermark Nazifrei“. Sie alle eint der Kampf gegen Rechts und für eine solidarische, vielfältige Gesellschaft.
Mit ihrer kreativen Aktion „Bleibt solidarisch – Egoismus ist keine Alternative“ setzte das „Bündnis Uckermark Nazifrei“ am 23. April 2021 ein deutliches Zeichen gegen rechts.