Als der damals 17-jährige Berzan B. am 28. April 2010 von einem vorbestraften Neonazi in der Nürnberger U-Bahn ins Koma geschlagen wird, liegt der rassistische Mord an İsmail Yaşar weniger als fünf Jahre zurück. Der Familienvater war an seinem Arbeitsplatz, einem mobilen Dönerimbissstand in der Nürnberger Scharrerstraße, vom NSU-Netzwerk getötet worden – so wie acht Jahre zuvor der Metallfacharbeiter und Änderungsschneider Abdurrahim Özüdoğru und neun Jahre vorher der Blumengroßhändler Enver Şimşek. Der Sprengstoffanschlag auf Mehmet O. und die Bar „Sonnenschein“ liegt elf Jahre zurück.
Nach jedem der rassistischen Morde an den Nürnberger Familienvätern ermittelte die Polizei ausschließlich im Familienkreis: Sie unterstellte den Ermordeten kriminelle Machenschaften und verdächtigte ihre trauernden Familienangehörigen. Diese von Rassismus und Täter-Opfer-Umkehr geprägten Ermittlungsmethoden der Polizei, die die betroffenen Familien kriminalisierte, verdächtigte und die Neonazi-Gewalt ignorierte und verharmloste, erleben auch Berzan B. und seine Familie. Aber sie bleiben damit nicht allein. Als durch antifaschistische Recherchen bekannt wird, dass Berzan von einem Neonazi schwer verletzt wurde, solidarisiert sich ein breites antifaschistisches Bündnis mit ihm und fordert Aufklärung.
„Du kannst gar nichts machen, das ist eine krasse Situation.“
Berzan B., seine Schwester Hevin und seine Mutter Petra berichten über die Folgen des Angriffs und die Bedeutung der Solidarität, April 2021 in Nürnberg
Der Angriff
Die U-Bahnstation Plärrer ist einer der Verkehrsknotenpunkte in Nürnberg und hoch frequentiert. Auch am 28. April 2010, einem Mittwoch gegen 13:45 Uhr. Berzan ist auf dem Weg zu seiner Clique, als er im U-Bahnwaggon auf den Neonazi-Kader Peter R. (24) und dessen damalige Freundin trifft. Berzan ist antifaschistisch engagiert, das Neonazi-Pärchen fällt ihm durch eine Bauchtasche des rechten Modelabels „Thor Steinar“ auf. Auf der dreiminütigen Strecke zwischen Hauptbahnhof und Plärrer kommt es zu einem Wortgefecht. Der sieben Jahre ältere, gewalterprobte und trainierte Kampfsportler und Neonazi schlägt auf Berzan B. ein und verletzt ihn lebensgefährlich. Als der Rettungswagen eintrifft, ist Berzan bereits klinisch tot und muss zweimal reanimiert werden.
Stunden nach dem Angriff informieren Polizisten die Familie von Berzan. In der Wohnung treffen die Beamten nur seine damals 14-jährige Schwester Hevin an. Sie solle der Mutter ausrichten, Berzan sei im Krankenhaus. Über die Schwere und Ursache der Verletzung wird die Familie zunächst nicht informiert. Berzan liegt im Koma, es ist zu diesem Zeitpunkt nicht sicher, ob und mit welchen bleibenden Schädigungen er wieder aufwacht.
„Wir waren eigentlich eine ganz normale Familie.“
Berzan und Hevin wachsen in einem politisch interessierten Elternhaus auf. Vor allem durch das politische Engagement des kurdischen Vaters nehmen sie auch an Veranstaltungen oder Demonstrationen teil. Die eher traditionellen und konservativen Vorstellungen des Vaters sind Berzan zu eng. Als Teenager sucht er sich seinen eigenen Freundeskreis und beginnt selbst politisch aktiv zu werden. In dieser Zeit lernt er auch Jürgen K. kennen. Der Vater eines guten Freundes von Berzan engagiert sich in antifaschistischen Bündnissen.
„Ich hab meinen großen Bruder total vergöttert.“
Berzan und Hevin erinnern sich mit ihrer Mutter und Jürgen K. an antifaschistische Protestaktionen gegen den Thor-Steinar-Laden in Nürnberg, April 2021 in Nürnberg
Szenekleidung für Rechtsextreme: Thor Steinar
Zur Jahrtausendwende galt Thor Steinar noch als reine Neonazi-Szenemarke. Mit modischem Design und hochpreisiger Kleidung wurden aber auch Kund*innen außerhalb des extrem rechten Spektrums angesprochen. Trotz szeneinterner Konkurrenzmarken und Streits um die Kommerzialisierung: Die Expert*innen von der „Agentur für soziale Perspektiven“, die mit der Broschüre „Das Versteckspiel“ über die Codes und Labels der extremen Rechten informieren, kommen zu dem Schluss, dass Thor Steinar noch immer die Marke ist, die auf rechten Aufmärschen am häufigsten getragen wird.
Zum Zeitpunkt des Angriffs auf Berzan ist das Tragen von Kleidung und Accessoires des Labels ein offenes Bekenntnis zur Neonaziszene. Das Logo der Marke bildet eine Kombination von verschiedenen, von nationalsozialistischen Organisationen verwendeten Runen, die bei Neonazis sehr beliebt sind. Es besteht in seiner ursprünglichen Form aus einer Tyr-Rune und einer Gibor-Rune, einer „liegenden Wolfsangel“. Die sogenannte Pfeil-, Kampf- oder Tyr-Rune auf der Bauchtasche in der U-Bahn – und vielen anderen Accessoires der Marke – wurde im Nationalsozialismus von der Hitlerjugend und der SA als Symbol für Kampf bzw. Krieg verwendet. Die Odal-Rune wird als Symbol für „Blut und Boden“ und Besitz der „Sippe“ gedeutet. Sie war das Symbol der Reichsbauernschaft und der Hitlerjugend und diente der SS als Divisionsabzeichen. Die Wolfsangel geht in ihrer Bedeutung auf einen Roman aus den 1920er Jahren zurück, der von Werwölfen in einem völkisch-heidnischen Untergrundkampf gegen das Christentum handelt. Im NS fand die Wolfsangel Verwendung bei der SS. Damals und in der Gegenwart drückt sie den unbedingten Kampfeswillen für die Vernichtung der politischen Gegner*innen aus.
Quelle: Das Versteckspiel – Lifestyle, Symbole und Codes von neonazistischen und extrem rechten Gruppen
Proteste gegen Thor-Steinar-Läden
In vielen Städten gibt es nach der Jahrtausendwende Proteste gegen Thor-Steinar-Läden, häufig sind die auch erfolgreich. In Nürnberg wird knapp 18 Monate vor dem Angriff auf Berzan Ende November 2008 mitten in der Innenstadt der Laden „Tönsberg“ eröffnet. Dagegen mobilisieren die lokale Antifa und zivilgesellschaftliche Bündnisse sowie Gewerkschaften und Parteien. Der andauernde Protest sowie die Räumungsklage gegen die Betreiber erreichen am 6. Januar 2011 tatsächlich auch die Schließung des Ladens.
Berzan beteiligt sich an den Protesten, verteilt Flugblätter und Boykottaufrufe. Am 28. April 2010 bemerkt er in der U-Bahn eine Frau mit Thor-Steinar-Tasche und spricht sie an. Es kommt zu einer verbalen Auseinandersetzung und dem lebensgefährlichen Angriff.
Eine ausführliche Dokumentation findet sich hier: Die Modemarke „Thor Steinar“
Die polizeilichen Ermittlungen
Am Tag nach dem Angriff werden Petra B. und ihre Tochter aufgefordert, im Nürnberger Polizeipräsidium eine Aussage zu machen. Die 14-jährige Hevin wird getrennt von ihrer Mutter vernommen. Dabei haben Minderjährige wie Hevin eigentlich ein Anrecht auf den Beistand ihrer Eltern, wenn sie von Polizeibeamt*innen vernommen werden. Doch die Polizei verschweigt der Mutter, dass sie ein Recht darauf hat, bei Hevins Zeuginnenvernehmung anwesend zu sein. Die Polizisten interessieren sich in erster Linie nur für Berzans Freunde und Kontakte in der Antifaszene.
„Sie wollten super viele Namen wissen.“
Hevin über die Situation beim Polizeiverhör; Petra und Berzan berichten vom Versuch der Polizei, direkt nach dem Erwachen aus dem Koma eine Befragung mit ihm durchzuführen, April 2021 in Nürnberg
Ein „Spezialist für Körperverletzung“
Der Mann, der Berzan bleibende Verletzungen zufügt, ist damals im „Freien Netz Süd“ aktiv – einem Zusammenschluss militanter Neonazis, die zuvor in der „Fränkischen Aktionsfront“ organisiert waren, die im Jahr 2004 vom Bayerischen Innenministerium wegen ihrer „Wesensverwandtschaft zum Nationalsozialismus“ verboten wurde. Der damals 24-jährige Neonazi war schon vor dem Angriff auf Berzan mit einem T-Shirt mit der Aufschrift „Spezialist für Körperverletzung“ aufgefallen und wegen eines Angriffs auf zwei antifaschistische Gegendemonstranten zu einer Bewährungsstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt worden. Seit das „Freie Netz Süd“ im Jahr 2014 ebenfalls verboten wurde, zeigt sich Berzans Angreifer bei Aktivitäten der Neonazi-Partei „Der III. Weg“.
Während die Ärzte um Berzans Leben ringen, flüchten der Neonazi und seine Freundin und fahren zu einem nahe gelegenen See. Einen Tag später stellt sich R. der Polizei und kommt in Untersuchungshaft. Er nimmt wohl an, durch die Videoüberwachung in der U-Bahn und die zahlreichen Zeug*innen ohnehin identifizierbar zu sein und will einer Verhaftung zuvorkommen.
Gewalttätige Neonazi-Szene in der Region Nürnberg
Der Angriff auf Berzan reiht sich in eine seit den 1990er Jahren bestehende Kontinuität von Anschlägen, Sachbeschädigungen und Gewalttaten gegen Nazigegner*innen in der Region Nürnberg ein: Scheiben von Gewerkschafts- und Parteibüros werden regelmäßig zerstört, die Hauswände mit rechten Parolen beschmiert. Privatadressen und Wohnhäuser werden mit Farbe beworfen oder Graffitis markiert, Autos von bekannten Antifaschist*innen demoliert. Auch körperliche Angriffe sind keine Seltenheit. Einige Wochen vor dem Angriff auf Berzan überfallen Neonazis in der – vom Plärrer nur wenige Kilometer entfernten – Fürther Innenstadt eine Gruppe von Nazigegner*innen. Mit Quarzsandhandschuhen bewaffnete Neonazis jagen die Gruppe und schlagen dann auf einen 19-jährigen Antifaschisten ein, als dieser bereits verletzt am Boden liegt. Wenige Tage nach dem Angriff auf Berzan drohen Neonazis einem jungen Mann mit den Worten „Willst Du auch ins Koma?“ und prügeln auf ihn ein.
Anschläge auf Autos von Mitgliedern des Bündnisses gegen Rechts und auf das Gewerkschaftsbüro in Nürnberg in den Jahren 2009 – 2011
Neonazis veröffentlichen sogenannte „Feindeslisten“ mit Namen, Fotos und Adressen von politischen Gegner*innen
Die Neonazis, die später im „Freien Netz Süd“ aktiv waren und der verbotenen „Fränkischen Aktionsfront“, sind seit den 1990er Jahren als sogenannte „Anti-Antifa“ aktiv. Auf Internetseiten veröffentlichen sie Namen, Fotos und Privatadressen von politischen Gegner*innen: Antifaschist*innen, Journalist*innen, engagierten Gewerkschafter*innen und Lehrer*innen. Auch nach dem Angriff in der U-Bahn am Plärrer gehen die Sachbeschädigungen und körperlichen Angriffe auf politische Gegner*innen weiter, deren Namen und Fotos zuvor auf Internetseiten der Neonazis veröffentlicht worden waren. Die Sachschäden, die Neonazis alleine im Zeitraum von 2007 bis 2011 an Büroräumen, Wohnungen und Privat-Pkws verursachen, belaufen sich in der Region Nürnberg-Fürth auf mehr als 60.000 Euro. Sie profitieren von einem über zwei Jahrzehnte gewachsenen Klima der Straflosigkeit und Verharmlosung rassistischer und neonazistischer Gewalt und Aktivitäten bei Polizei und Justiz, die gleichzeitig antifaschistische Aktivitäten als „linksextrem“ brandmarken und kriminalisieren.
Neun Jahre vor dem Neonazi-Angriff auf Berzan stirbt Enver Şimşek am 11. September 2000 in einem Krankenhaus in Nürnberg. Der 38-jährige Vater von zwei Kindern ist das erste bekannte Todesopfer der rassistischen Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU).
Der Mord an Enver Şimşek
Am Samstag, dem 9. September 2000, vertritt der damals 38-jährige Enver Şimşek einen Kollegen an seinem mobilen Blumenstand in Nürnberg-Langwasser. Gegen Mittag wird er beim Sortieren von Blumen in seinem Lieferwagen durch acht Schüsse regelrecht hingerichtet; die Täter aus dem NSU-Netzwerk verwenden dabei zum ersten Mal auch eine Pistole der Marke Česká 83. Der schwer verletzte Enver Şimşek wird erst Stunden später gefunden und verstirbt zwei Tage später, am 11. September 2000, ohne zuvor das Bewusstsein wiederzuerlangen.
Polizei verdächtigt die Familie
Bei den Ermittlungen zum Mord an Enver Şimşek verdächtigt die Polizei von Anfang an seine Familienangehörigen und sein soziales und geschäftliches Umfeld. Wegen der beruflichen Fahrten des Blumengroßhändlers nach Holland konstruiert die Mordkommission am Polizeipräsidium Nürnberg vermeintliche Verbindungen des Ermordeten ins Drogenhandelsmilieu. Obwohl es keinerlei Indizien gibt, ermitteln die Beamten ausschließlich in Richtung organisierter Kriminalität. Die trauernde Witwe Adile Şimşek und die damals 12- und 14-jährigen Kinder Abdulkerim und Semiya Şimşek werden stundenlang ohne erwachsene Begleitpersonen vernommen. Die Familie wird observiert, ihre Telefonkommunikation abgehört, ihr Auto verwanzt. Die Lokalmedien verbreiten ungeprüft den Verdacht der Polizei gegen die Familie und den Ermordeten. Familie und Freund*innen von Enver Şimşek werden öffentlich stigmatisiert. „Elf Jahre lang durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein“, hat Semiya Şimşek diese Kriminalisierung in ihrem Buch “Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater” (Hamburg 2013) beschrieben.
„Damit brandmarken sie Menschen.“
Seda Başay-Yıldız ist Anwältin der Familie Şimşek und vertrat deren Nebenklage im NSU-Prozess. Sie berichtet vom strukturellen Rassismus, der die polizeilichen Ermittlungen zur NSU-Mordserie prägte. August 2021 in Frankfurt
Am 23. Juni 1999 explodiert in der Nürnberger Bar „Sonnenschein“ eine Bombe, versteckt in einer Taschenlampe. Der Barbetreiber Mehmet O. wird schwer verletzt.
In der Stadt werden zwei weitere Familienväter vom NSU-Netzwerk ermordet. Am 13. Juni 2001 stirbt Abdurrahim Özüdoğru in der Änderungsschneiderei, die er neben seiner Arbeit als Metallfacharbeiter betreibt. Daraufhin richtet das Polizeipräsidium eine Sonderkommission mit der rassifizierenden Bezeichnung „Halbmond“ ein. Nachdem am 9. Juni 2005 der 50-jährige İsmail Yaşar, Inhaber eines beliebten Dönerimbisses, als sechstes Opfer der rassistischen Mordserie an seinem Arbeitsplatz ermordet wird, übernimmt das Polizeipräsidium Nürnberg die Leitung der „Besonderen Aufbauorganisation Bosporus“ (BAO), die die bundesweiten Ermittlungen nach den Mördern koordiniert. Deren Leiter behauptet gegenüber den Medien, die Angehörigen der Mordopfer hätten „eine Mauer des Schweigens“ errichtet und lebten in einer „Parallelwelt“, während seine Beamten sich weigern, die Vermutung der Hinterbliebenen, bei den Mördern müsse es sich um Neonazis handeln, überhaupt zu Protokoll zu nehmen.
Erst durch die Selbstenttarnung des NSU-Terrornetzwerks am 4. November 2011 und das Auffinden der Tatwaffe, mit der Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar ermordet wurden, im Brandschutt der Wohnung des NSU-Kerntrios hört die Polizei in Nürnberg auf, die Familien der Ermordeten der Täter*innen- oder Mitwisser*innenschaft und die Getöteten als kriminell zu verdächtigen.
Auch bei den Ermittlungen nach dem Neonazi-Angriff auf Berzan diffamiert die Polizei erst einmal den Schwerverletzten und dessen antifaschistisches Engagement. Drei Tage lang verschweigen sie der Öffentlichkeit, dass es sich bei dem einschlägig vorbestraften, in Untersuchungshaft einsitzenden Angreifer um einen Neonazi handelt. Dann behaupten die Ermittler, ein „Rechter und ein Linker“ seien „aneinandergeraten“.
„Dass R. zur ultrarechten Szene gehört, müssen die Ermittler gleichwohl vorher gewusst haben. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung trat der 24-jährige schon 40 Mal als Aktivist der Ultrarechten in Erscheinung. So marschierte er in der fränkischen Kleinstadt Gräfenberg mit, die bis vor kurzem regelmäßig von Neonazis heimgesucht wurde. Er sympathisierte mit der inzwischen verbotenen „Fränkischen Aktionsfront“ und gründete die neonazistische „Kameradschaft Fürth-Land“ Bei den Staatsschützern wird R. als „überzeugter Neonazi“ geführt. Höchst aktiv sei er – und „sehr gewaltbereit“.“
Tagelang schweigt die Polizei über die politische Motivation des Angriffs auf Berzan. Offenbar sollte die Gefahr von Neonazis kein Thema bei der bevorstehenden Gewerkschaftskundgebung am 1. Mai 2010 werden. Selbst Nürnbergs Oberbürgermeister Ulrich Maly (SPD) wird erst nach seinem Redebeitrag auf der Kundgebung durch die Polizei informiert.
Der Angriff auf Berzan spricht sich unter seinen Freunden noch am gleichen Tag herum. Nach Recherchen antifaschistischer Gruppen ist ihnen auch schnell bekannt, wer der Täter ist und aus welchem Umfeld er kommt. Nun solidarisieren sich viele Menschen in einem Bündnis und fordern Aufklärung. Erst durch diesen öffentlichem Druck bestätigt die Polizei die Zugehörigkeit des Täters zur Neonazi-Szene.
„Es gab schnell ein großes Bündnis.“
Jürgen K., Petra und Hevin B. über die Entstehung des Soli-Komitees gegen Rechts, April 2021 in Nürnberg
Das Soli-Komitee gegen Rechts
Das Soli-Komitee gegen Rechts ist ein breites Bündnis verschiedener Organisationen und Gruppen in Nürnberg. Immer wieder machen sie durch Demonstrationen und Solidaritätsaktionen deutlich, dass sie nicht bereit sind, Neonazi-Strukturen und deren Gewalt tatenlos hinzunehmen. Sie widersprechen der Darstellung der Behörden, dass es sich bei dem Angriff auf Berzan um die Auseinandersetzungen „zwischen extremistischen Lagern“ handelt.
Soli-Demo für Berzan, Nürnberg 2010
Nach mehreren Monaten und acht Operationen am Bein kann Berzan im Sommer 2010 das Krankenhaus verlassen und beginnt eine Reha-Maßnahme. An den geplanten Beginn seiner Schreinerlehre im September 2010 ist nicht zu denken. Berzan leidet nach wie vor unter starker Konzentrationsschwäche und kann nicht ohne Schmerzen laufen. Die Unterstützung und Solidarität in dieser Zeit hat er nie vergessen.
„Viele Leute haben mir geschrieben und ich konnte mich nie dafür bedanken. An dieser Stelle nochmal danke. Weil ich hab sie immer noch. Und das hat mir irgendwie auch gezeigt, … ja, Solidarität. Das ist schon was. Also das Gefühl, nicht alleine zu sein.“
Einige der Postkarten, die Berzan im Krankenhaus bekommen hat
Der Prozess
Am 17. Februar 2011 beginnt im historischen Saal 600 des Nürnberger Landgerichts der Prozess. Es ist derselbe Saal, in dem 1945 die Nürnberger Prozesse gegen die Führungsriege des nationalsozialistischen Regimes stattgefunden hatten.
Da es bei anderen Gerichtsverfahren mehrfach zu Störungen und Pöbeleien durch Neonazis gekommen war, mobilisiert das „Soli-Komitee gegen Rechts“ Beobachter*innen zum Prozess. Sie wollen die Plätze auf den Zuschauerbänken rechtzeitig belegen, um so einen solidarischen Raum für Berzan und seine Familie zu schaffen, die selbst als Nebenkläger*innen auftreten.
„Da kam ein Trupp Nazis anmarschiert.“
Berzan, Hevin und Petra B. sowie Jürgen K. berichten über die Gerichtsverhandlung, April 2021 in Nürnberg
Richter macht Platz für Neonazis
Die Plätze im Zuschauerraum sind schon gefüllt, für die Neonazi-Unterstützer des Angeklagten gibt es keine Sitzgelegenheiten mehr. Doch der Vorsitzende Richter Richard Caspar entscheidet, die „andere Seite“ müsse auch am Prozess teilnehmen. Er lässt die Hälfte des Zuschauerraums mit Gewalt räumen. Damit nimmt er in Kauf, dass die Bedrohungslage für Berzan, seine Angehörigen und einige Zeug*innen auch vor Gericht nicht vorbei ist. Die Großmutter von Berzan muss nun neben einem Neonazi sitzend den Prozess verfolgen.
Das war nicht die einzige Bedrohung. Während des Prozesses wird die Privatadresse von Berzans Familie durch Neonazis ins Internet gestellt. Manche Zeug*innen wollten aus Angst vor rechten Angriffen und den Internet-Feindeslisten der „Anti-Antifa“ ihren Namen und ihre Anschrift in der Hauptverhandlung nicht nennen.
Abendzeitung vom 24.02.2011
Mit ihrer Anklage hatte die Staatsanwaltschaft dem damals 24-jährigen Peter R. versuchten Totschlag vorgeworfen. Nach mehreren Prozesstagen wird der bis heute aktive Neonazi schließlich im Frühjahr 2011 zu einer Haftstrafe von fünfeinhalb Jahren wegen schwerer Körperverletzung verurteilt. Der Richter will keine Tötungsabsicht in der Tat erkennen.
Der NSU offenbart sich der Öffentlichkeit
Erst elf Jahre nach dem Mord an Enver Şimşek steht durch die Selbstenttarnung des NSU am 4. November 2011 fest, dass Neonazis den Familienvater und neun andere Menschen aus rassistischer und rechtsterroristischer Motivation getötet haben. Jahrelang lebten die Familien unter dem Verdacht und der Unterstellung der Polizei, ihre ermordeten Väter, Söhne und Brüder hätten selbst etwas mit ihren Mördern zu tun gehabt. Dabei gab es schon beim Mord an Enver Şimşek Zeugen, die zwei „europäisch“ aussehende Männer mit Fahrrad am Tatort gesehen hatten. Aber diese Spur wurde nicht weiterverfolgt, sie passte nicht in die rassistischen Vorurteile der ermittelnden Beamten. Ohne konkrete Hinweise stellten sie auch die Morde an Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar in den Zusammenhang eines vermeintlichen „Rauschgiftmilieus“.
Erst durch die Interviews der Hinterbliebenen, den parlamentarischen Untersuchungsausschuss im Bundestag sowie durch die Nebenkläger*innen im Prozess erfährt die Öffentlichkeit, wie institutioneller Rassismus die Polizeiarbeit bei der gesamten Mordserie durchzogen und eine erfolgreiche Ermittlungsarbeit unmöglich gemacht hat.
„Man ist mit diesen Menschen sehr schlecht umgegangen.“
Seda Başay-Yıldız über strukturellen Rassismus der Ermittlungsbehörden
Täter ist weiterhin in rechter Szene aktiv
Der Angreifer Peter R. ist heute längst wieder auf freiem Fuß und weiterhin in der Neonazi-Szene aktiv. Er nimmt beispielsweise als Ordner an Demonstrationen der Neonazi-Partei „Der III. Weg“ teil. In der Szene hat R. viel Zuspruch für seinen Angriff auf Berzan erfahren. Noch während er in Haft saß, traten seine Nürnberger Kameraden bei einem Fußballturnier von „Blood and Honour Ungarn“ als „Sportgemeinschaft Plärrer“ auf – eine Anspielung auf den Tatort des gewalttätigen Angriffs. Statt Rückennummern trugen die Neonazis auf den Trikots Buchstaben, die nebeneinandergestellt „Peter R.“ ergaben. Eine makabre Solidaritätsaktion der Neonazis. Den Prozess gegen das NSU-Mitglied Beate Zschäpe und die engsten Unterstützer am Oberlandesgericht München besuchte Peter R. am Tag der Urteilsverkündung.
Bis heute sind Semiya und Abdulkerim Şimşek und viele Nürnberger Antifaschist*innen davon überzeugt, dass Neonazis aus der „Fränkischen Aktionsfront“ und dem „Freien Netz Süd“ die Tatorte der NSU-Morde und des NSU-Sprengstoffanschlags auf das Café Sonnenschein in Nürnberg, bei dem dessen Besitzer Mehmet O. im Juni 1999 schwer verletzt wurde, ausgespäht haben (vgl. Konrad Litschko, TAZ, 31.10.2021).
Im Mai 2021 fordern die demokratischen Parteien im Nürnberger Stadtrat einen zweiten NSU-Untersuchungsausschuss im Bayerischen Landtag, damit diese Frage der Hinterbliebenen und Überlebenden endlich aufgeklärt wird.
Peter R. bei den rassistischen Mobilisierungen im Spätsommer 2018 in Chemnitz, Foto: J. Miller
Die Aktivitäten der Neonaziszene rund um die Partei „Der III. Weg“ in Nürnberg und Umgebung sind in den vergangenen Jahren zwar deutlich zurückgegangen. Dies ist auch ein Ergebnis der kontinuierlichen Arbeit von Nazigegner*innen in Franken. Neben wenigen eigenen Aktionen beteiligen sich die Rechtsextremen derzeit hauptsächlich an Demonstrationen der Coronaleugner-Bewegung. Vor allem aber konzentrieren sich die Neonazis des „III. Wegs“ auf die Aufbauarbeit der Strukturen in Sachsen und Thüringen.
Für das Leben von Berzan und seiner Familie war der Angriff im Frühjahr 2010 sehr prägend. Berzan brauchte viele Jahre, um einen Weg für ein Leben zu finden, und ist immer noch dabei, die Folgen der erlittenen Gewalt und Repression zu verarbeiten. Die Erfahrung der Solidarität vieler Menschen hat ihm dabei geholfen.
„Ich fand es erst einmal stark, dass so viele Leute mich unterstützen und auf der richtigen Seite stehen. Aber im Endeffekt hat mich das alles irgendwie überfordert, das kann ich jetzt auch im Nachhinein sagen. Schön, dass mich jemand unterstützt. Aber schöner wäre es, wenn mich niemand unterstützen müsste.
Auf jeden Fall, wenn Leuten sowas passiert und Leute in so eine Situation kommen, ist es richtig, sie zu unterstützen. Da ist auch der Grund, warum ich das hier mitmache. Es strengt mich schon an, aber man muss über sowas reden.“