Neonazis hatten ihn wenige Tage vorher, in der Nacht zum Ostersonntag, dem 31. März 1991, in einer Straßenbahn rassistisch beleidigt, geschlagen, bedroht und dann aus der fahrenden Bahn gestoßen. Er erleidet bei diesem Sturz schwerste Kopfverletzungen und stirbt nach sechs Tagen im Koma auf der Intensivstation der Medizinischen Akademie Dresden.
Jorge Gomondai ist das erste Todesopfer rassistischer Gewalt in Sachsen nach der Wiedervereinigung. Sein Tod hat das Leben vieler Menschen in Dresden nachhaltig verändert.
„Dann war nichts mehr so, wie es mal war.“
Emiliano Chaimite, Olga M. und Danilo Starosta erinnern sich an das Jahr 1991 und den Tod von Jorge Gomondai, Dresden im Januar 2020
Der Beginn der 1990er Jahre ist geprägt durch den Auf- und Umbruch, den die Öffnung der Mauer und das Ende der DDR mit sich brachten. Immer deutlicher sind nationalistische Töne zu hören. Rechte Angriffe gegen Migrant*innen und linke Jugendliche nehmen zu, die Strafverfolgungsbehörden reagieren kaum: Polizeibeamte werden Zeug*innen von Angriffen, ohne einzugreifen. Staatsanwaltschaften stellen Ermittlungsverfahren gegen Neonazis reihenweise ein. Die bejubelte Wiedervereinigung bedeutet für die ausländischen Studierenden und Arbeiter*innen der ehemaligen DDR vor allem Unsicherheit und Angst. Ihr Aufenthaltsstatus und damit ihre Zukunft sind ungewiss. 1989 leben 90.000 Vertragsarbeiter*innen in der DDR, 17.000 davon aus Mosambik. Die allermeisten werden in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt.
Jorge Gomondai lebt seit 1981 in der DDR. Als Achtzehnjähriger war er gemeinsam mit vielen anderen jungen Mosambikaner*innen als Vertragsarbeiter voller Hoffnungen nach Dresden gekommen.
Im Dezember 1962 wird Jorge Gomondai in der Provinz Manica in Mosambik geboren. Er ist das dritte von insgesamt sieben Geschwistern. Mosambik ist zu diesem Zeitpunkt noch portugiesische Kolonie, erst 1975 gewinnt das südostafrikanische Land seine Unabhängigkeit. Die Familie Gomondai lebt wie die Bevölkerungsmehrheit in einfachen Verhältnissen. Der Vater arbeitet in einer Textilfabrik. Nebenbei bebauen sie ein kleines Stück Land.
Jorge mit Bruder Pita und Mutter Luisa Nhandima Gomondai, 1965 © Pita Gomondai
Jorge und sein älterer Bruder Pita wachsen gemeinsam auf. Die gesellschaftliche Aufbruchstimmung in Mosambik in den ersten Jahren der Unabhängigkeit nutzen beide und besuchen weiterführende Schulen in der Stadt Chimoio. Im Februar 1979 schließen Mosambik und die DDR ein Regierungsabkommen, das unter anderem die zeitweilige Beschäftigung junger mosambikanischer Arbeitskräfte in der DDR vorsieht. Bedingung für die Teilnahme an diesem Programm sind Volljährigkeit und mindestens vier Jahre Schulbildung.
Gerade achtzehn Jahre alt geworden, ergreift Jorge die Gelegenheit ins Ausland zu gehen und bewirbt sich für eine Ausbildung und Arbeit in der DDR. Im Sommer 1981 verlässt er Mosambik. Seine Familie sieht er danach nur noch selten. Erst nach vier Jahren, 1985, kann er in den Ferien wieder zu Besuch kommen. Seine jüngeren Schwestern sehen ihn zum ersten Mal.
„Ich habe mich für ihn gefreut und gesagt: Aber vergiss deinen Vater und deine Mutter nicht.“
Jorge Gomondais Mutter Luisa Nhandima Gomondai und seine Geschwister Pita, Carlotta und Angelina, Februar 2020 in Chimoio, Mosambik
Leben in der DDR
Am 4. November 1980 kommen die ersten neunzig Vertragsarbeiter*innen aus Mosambik im Fleischkombinat Dresden an. Vorgesehen ist ein Aufenthalt von vier bis fünf Jahren, in denen die jungen Mosambikaner*innen für die Betriebe der DDR arbeiten und eine Ausbildung erhalten sollen. Anschließend, so sieht es der Staatsvertrag von 1979 vor, sollen sie nach Mosambik zurückkehren und dort „den Aufbau des sozialistischen Heimatlandes“ vorantreiben.
Blick stadteinwärts vom Hauptbahnhof Dresden © Hans-Peter Waack, 1980
Am 10. Juli 1981 landet eine Maschine der mosambikanischen Fluggesellschaft LAM auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld. Einer der Passagiere ist der achtzehnjährige Jorge Gomondai. Zusammen mit der Gruppe von siebzig jungen Menschen wird er von Vertretern des VEB Fleischkombinats begrüßt. Nach der Zollabfertigung bringen zwei Busse sie nach Dresden.
In einer fünfmonatigen Eingewöhnungsphase lernen die jungen Erwachsenen Dresden und den Betrieb kennen. Sie erhalten polytechnischen Unterricht, einen Intensivlehrgang Deutsch und theoretischen Unterricht zur Vorbereitung auf ihre Arbeit im Schlachthof. Außerdem hören sie Vorträge über die DDR und nehmen an Exkursionen in andere Betriebe und zur Nationalen Volksarmee teil.
Deutsch für den Schlachthof
In den ersten Wochen ihres Aufenthalts erhalten die jungen Vertragsarbeiter*innen täglich Deutschunterricht. Um sie optimal auf ihren Einsatz im Betrieb vorzubereiten, werden sogar eigene Sprachfibeln für die verschiedenen Berufsgruppen gedruckt.
Noch bevor die Schüler*innen auf Deutsch ihre eigenen Bedürfnisse formulieren können, lernen sie Fachbegriffe für die Grobzerlegung von Schweinen und die genauen Berufsbezeichnungen der Vorgesetzten. Damit wird auch sprachlich der Rahmen abgesteckt, in dem sie sich in den nächsten Jahren bewegen sollen.
„Unsere Klassenpflicht gebietet es, den moçambiquanischen Werktätigen zu helfen, die negativen Folgen des Jahrhunderte währenden Kolonialregimes schrittweise zu überwinden.“
Arbeit im Fleischkombinat
Die Bedingungen für den Einsatz ausländischer Werktätiger in der DDR sind über Regierungsabkommen geregelt und werden im Sinne der sozialistischen Machthabenden propagandistisch begleitet. Der Aufenthalt der Arbeiter*innen aus Mosambik wird zu einem einseitigen solidarischen Akt der DDR erklärt. Dass deren Wirtschaft die Arbeitskräfte dringend braucht, wird dabei verschwiegen. Mosambikaner*innen werden durchweg als Lernende beschrieben, die die Unterstützung der DDR-Bevölkerung für den Fortschritt und ihre Entwicklung benötigen.
Jorge Gomondais Alltag in Dresden findet hauptsächlich bei der Arbeit im Schlachthof statt. Die Betriebszeitung „Schlachthofturm“ berichtet regelmäßig von den Erfolgen bei der Ausbildung der mosambikanischen Arbeiter*innen. Auch von Jorge erscheint 1987 ein Bild im „Schlachthofturm“.
Jorge Gomondai (re.) mit einem Kollegen bei der Wurstproduktion („Schlachthofturm“ 1987, Ausgabe 7, S. 5)
Fußballer unter sich
Wie in vielen anderen Betrieben gründen auch Vertragsarbeiter*innen im Fleischkombinat Dresden eigene, nach Herkunftsländern getrennte Fußballmannschaften. Eigenständige Vereine dürfen sie nach den Regeln des Turn- und Sportbundes der DDR nicht gründen, nur ausländische Mannschaften innerhalb eines bestehenden Vereins sind erlaubt.
Auch Jorge spielt und trainiert regelmäßig in der mosambikanischen Fußballmannschaft des Betriebs.
(Foto aus: „Schlachthofturm“, Ausgabe 5 vom 10. Mai 1982, S. 7)
Das Wohnheim
In einem zehnstöckigen Plattenbau in der Florian-Geyer-Straße 48 in Dresden-Johannstadt richtet der Betrieb ein Wohnheim für die mosambikanischen Vertragsarbeiter*innen ein. Ein ganzer Hauseingang in diesem Block ist für sie reserviert. Kontakt mit deutschen Nachbar*innen gibt es deshalb kaum. Sechs bis acht Kolleg*innen teilen sich eine Wohnung. Eine eigene Wohnung außerhalb des Wohnheims zu mieten ist nicht gestattet.
Jorge wohnt mit fünf Kollegen in einer Dreiraumwohnung im sechsten Stock.
© SLUB Dresden/Deutsche Fotothek/Herbert Boswank, http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/87717775
Aus dem Fotoalbum von Jorge Gomondai
Die Bilder, die Jorge in sein Fotoalbum einklebt und die er an die Familie in Mosambik schickt, zeigen wenig von seinem Alltag. Aber: Sie zeigen einen stolzen und fröhlichen jungen Mann, der erfolgreich in Deutschland angekommen ist.
Leider fehlen weitere Angaben über Ort und Zeit der Entstehung der Bilder.
Vermutlich im Wohnheim, ca. 1981/82, © Pita Gomondai
Ort unbekannt, ca. 1985/86, © Pita Gomondai
Trotz der offiziellen Erzählung von Solidarität und Freundschaft haben die DDR-Bevölkerung und die Vertragsarbeiter*innen wenig Kontakt. Integration und ein dauerhafter Aufenthalt in der DDR sind nicht erwünscht. Eheschließungen mit Deutschen sind verboten, Liebesbeziehungen nicht gerne gesehen. Vertragsarbeiterinnen, die schwanger werden, müssen das Land verlassen. Unter der DDR-Bevölkerung kursieren Vorurteile und Gerüchte über angebliche Devisengeschäfte der Migrant*innen. Immer öfter werden sie in Kneipen, Diskotheken, aber auch in Zügen und Bussen rassistisch angefeindet und angegriffen.
In diese Situation hinein kommt Olga M. 1986 aus Mosambik nach Sachsen. Sowohl in Mosambik als auch in der DDR hat sich die Situation verändert. Mitte der achtziger Jahre ist der Arbeitskräftemangel in der DDR enorm, und der Einsatz im Betrieb erfolgt sehr schnell. Eine fundierte Ausbildung erhält die junge Frau nicht.
„Für mich war das keine Ausbildung, das war nur Kraftarbeit .“
Olga M. erzählt von ihrer Ankunft und ihrem Leben in der DDR und warum sie sich entschieden hat, in Deutschland zu bleiben, Januar 2020
1987 überfallen Neonazis ein Punkkonzert in der Zionskirche in Ostberlin. Spätestens seit diesem Zeitpunkt ist offensichtlich, was Vertragsarbeiter*innen, ausländische Studierende und alternative Jugendliche schon lange wissen: Es gibt organisierte Neonazis in der DDR. Roman Kalex ist als Jugendlicher seit Mitte der achtziger Jahre in der oppositionellen Gruppe „Wolfspelz“ politisch aktiv. Rechte Schlägertrupps, die linke Jugendliche in der Disco angreifen, erlebt er häufig.
Er ist nicht überrascht, als 1989 die Demonstrationen gegen die DDR-Regierung bald von nationalistischen Tönen durchdrungen sind. Auch in Dresden wird aus den Rufen der Montagsdemonstrationen „Wir sind das Volk“ schnell „Wir sind EIN Volk“.
Montagsdemonstration 29.01.1990 in Dresden, © Bundesarchiv, Bild 183-1990-0129-032 / Hiekel, Matthias
Für Danilo Starosta ist die Konfrontation mit aggressivem und gewalttätigem Rassismus seit seiner Kindheit Alltagsrealität. Doch die öffentlichen und organisierten Aufmärsche von Neonazis werden nun von großen Teilen der Bevölkerung unterstützt. Das verstärkt die Bedrohung massiv.
„In meiner Wahrnehmung gibt es die friedliche Revolution so nicht.“
Danilo Starosta und Roman Kalex berichten über rechte Gewalt in Dresden Ende der achtziger Jahre, Dresden im Januar 2020
Das Ende der DDR und der Anfang der neunziger Jahre sind gezeichnet von einem Machtvakuum – der Staat, insbesondere die Strafverfolgungsbehörden, wirken in den neuen Bundesländern überwiegend hilfslos und ohnmächtig. Für viele Deutsche äußert sich das in ungekannten Freiräumen.
Unter dem Deckmantel einer falsch verstandenen neuen „Meinungsfreiheit“ verbreiten offen rechte Jugendliche ihre rassistischen und nationalistischen Ansichten. Die Elterngeneration unterstützt sie dabei oder schaut weg. Gewalt und Bedrohung gegen Migrant*innen und Linke sind an der Tagesordnung und werden von den meisten Deutschen als normal hingenommen.
© Bundesarchiv, Bild 183-1990-0115-032 / Kluge, Wolfgang
Mit dem Ende der DDR werden auch die Regierungsabkommen zwischen der DDR und der Volksrepublik Mosambik für ungültig erklärt. Das bedeutet in der Regel das Ende der Arbeitsverträge und auch der dazugehörigen Unterkünfte für Vertragsarbeiter*innen. Im Schlachthof Dresden werden die Mosambikaner*innen 1990 als Erste entlassen. Sie müssen aus dem betriebseigenen Wohnheim in der Florian-Geyer-Straße ausziehen und werden in das Übergangswohnheim in der Holbeinstraße 42 im selben Stadtteil umquartiert. Mehrfach wird dieses Wohnheim 1990/91 attackiert und zum Teil mit Brandsätzen angegriffen.
Die Vertragsarbeiter*innen erhalten wegen der vorzeitigen Beendigung ihrer Verträge eine Abfindung von 3.000 D-Mark. Ausgezahlt wird das Geld nur, wenn sie das Land verlassen. Einige Mosambikaner*innen werden vom ehemaligen Fleischkombinat weitervermittelt an einen Fleischbetrieb in Pirna. Die meisten sind arbeitslos und müssen das Land verlassen.
Jorge Gomondai gehört zu den wenigen, die trotz vieler Schwierigkeiten in der Bundesrepublik Deutschland um Aufenthaltsgenehmigung, Wohnung und Arbeit kämpfen. Er pendelt zwischen verschiedenen Bundesländern.
Anfang 1991 fährt er gemeinsam mit Olga M. nach Rotterdam. Sie wollen sich die Arbeitsbedingungen im dortigen Schlachthof ansehen, denn der Schlachthof in der niederländischen Hafenstadt sucht Arbeitskräfte. Jorge erhält einen befristeten Arbeitsvertrag.
Kurz vor Ostern 1991 kehrt Jorge Gomondai von einem dreiwöchigen Aufenthalt in Rotterdam nach Dresden zurück.
Todesursache: Rassismus
In den frühen Morgenstunden des 31. März 1991 steigt Jorge Gomondai in die Straßenbahn Linie 7 ein. Er ist auf dem Heimweg in das Wohnheim im Stadtteil Johannstadt. Kurz nach 4 Uhr steigen am Platz der Einheit in der Dresdner Neustadt die letzten Fahrgäste aus. Nun steigt eine Gruppe von etwa zehn Neonazis zu Jorge Gomondai in den hintersten Waggon ein.
Diese Gruppe aus ost- und westdeutschen Neonazis war schon vorher gewalttätig durch das alternative Viertel Neustadt gezogen und hatte dort Kneipen angegriffen und mindestens eine weitere Person zusammengeschlagen. Bei der Polizei waren deshalb in dieser Nacht schon mehrere Notrufe eingegangen. Die Polizei hatte diese Gruppe den gesamten Abend über beobachtet und kurz vor dem Betreten der Straßenbahn am Platz der Einheit noch kontrolliert – allerdings ohne Folgen.
Haltestelle am Platz der Einheit © Werner Kohlert, 1991
Zeug*innen beschreiben später vor Gericht: Die Neonazis gehen unmittelbar auf Jorge Gomondai los. In seiner Not versucht er noch vergeblich, seinen Angreifern beschwichtigend die Hand hinzustrecken. Doch die Männer im Alter von 17 bis 27 Jahren traktieren ihn mit Schlägen, beleidigen ihn, bedrohen ihn. Sie hangeln sich an den Haltestangen entlang und imitieren Affenlaute.
Bis heute sind zentrale Fragen über den weiteren Tatverlauf offen: Wird Jorge Gomondai von den Neonazis schließlich aus der fahrenden Straßenbahn gestoßen? Oder versucht er aus Angst vor seinen Angreifern aus dem Waggon zu springen? Die verschleppten, fehler- und lückenhaften polizeilichen Ermittlungen und das mehr als zwei Jahre nach der Tat verhängte Urteil in einem kurzen Gerichtsverfahren am Landgericht Dresden bringen keine Antworten darauf. Jorge Gomondai erleidet bei dem Sturz aus der Straßenbahn schwerste Verletzungen am Kopf und bleibt bewusstlos auf dem Pflaster liegen.
Ein Taxifahrer, der den Bewegungslosen auf der Straße sieht, verständigt über Funk die Polizei. Währenddessen leisten die beiden Frauen, die bei ihm mitgefahren waren, erste Hilfe. Nachdem die Polizei eintrifft, sagen weitere Augenzeug*innen vor Ort aus, dass Jorge Gomondai geschlagen und aus der Bahn gestoßen wurde. Trotzdem reagieren die Beamten nicht und nehmen keine Ermittlungen auf. Stattdessen behaupten sie, der Schwerverletzte sei betrunken und ohne einen Strafantrag durch ihn könnten sie nichts unternehmen.
Jorge Gomondai wird anschließend auf die Intensivstation der Medizinischen Akademie „Carl Gustav Carus“ Dresden eingeliefert. Er erlangt das Bewusstsein nicht mehr wieder.
Er stirbt nach sechs Tagen im Koma am 6. April 1991 um 14:45 Uhr im Alter von 28 Jahren.
Familie Gomondai in Mosambik erfährt nicht, dass Jorge Gomondai in Dresden im Krankenhaus liegt und um sein Leben ringt. Auch von seinem Tod am 6. April 1991 wird sie nicht benachrichtigt. Ein Freund hört zufällig im staatlichen Radiosender, dass in Deutschland ein Mosambikaner gestorben sei. Er informiert Jorges Bruder Pita Gomondai. Erst als dieser selbst nachforscht, bestätigen offizielle Stellen, dass sein Bruder Jorge tot ist. Es beginnt ein zäher Kampf um die Überführung der Leiche nach Mosambik.
„Wir haben unsere Zeremonien, wir brauchen unseren Bruder hier.“
Angelina, Carlotta, Antonio, Pita und Xavier Gomondai erinnern sich an die Beerdigung ihres Bruders, Februar 2020, Chimoio, Mosambik
Erst im Mai 1991 – mehr als einen Monat nach seinem Tod – kann Jorge Gomondai in Mosambik beerdigt werden. Seitdem kommt die Familie einmal im Jahr zusammen, um an den Verstorbenen zu erinnern und gemeinsam zu gedenken. Bis heute hat Pita Gomondai alle Dokumente aufbewahrt. Sie geben einen erschreckenden Einblick in die bürokratischen Hürden in beiden Ländern. Über die genauen Umstände des Todes von Jorge Gomondai geben die Papiere jedoch keine Auskunft. Erst 1993, als ein deutsches Filmteam die Familie in Mosambik besucht, erfahren die Eltern und die Geschwister, auf welche brutale Weise ihr Bruder ums Leben kam. Eine offizielle Benachrichtigung mit einer Erklärung aus Deutschland haben sie nie erhalten.
Information der Fluggesellschaft, dass eine Sendung mit menschlichen Überresten und dem Gewicht von 149 kg innerhalb von 120 Stunden abzuholen sei. Sonst würden Lagergebühren fällig. Beira am 7. Mai 1991.
„Das kann jedem von uns täglich, jede Stunde passieren.“
Zwei Tage nach dem Tod von Jorge Gomondai rufen die Ausländerbeauftragte der Stadt Dresden und Kirchenvertreter*innen die Bevölkerung zu einer Trauerandacht in der Kreuzkirche und einem Demonstrationszug durch das Stadtzentrum zum Ort des Verbrechens auf. Mehrere tausend Dresdner*innen schließen sich dem Aufruf an und versammeln sich am 11. April 1991 in der Innenstadt von Dresden. Zum Gedenkgottesdienst sind Hunderte Menschen in die Dresdner Kreuzkirche gekommen.
Der evangelische Superintendent Christof Ziemer ruft dort zur Solidarität mit migrantischen Dresdner*innen auf. Der Sprecher der CDU-geführten sächsischen Landesregierung, Michael Kinze, verneint jedoch ein rassistisches Motiv und entschuldigt die Tat und die Täter*innen stattdessen als Ausdruck der „Schwierigkeiten vieler Menschen, ihren Standort in der freiheitlich-demokratischen Ordnung zu finden“. Die Regierung von Sachsen werde sich daher bemühen „gesunde, attraktive Alternativen für die Freizeitgestaltung zu finden“. Dresdens CDU-Oberbürgermeister Herbert Wagner bleibt dem Trauergottesdienst fern.
„Das ist das Minimum, was ich erwarte, dass Menschen dafür auf die Straße gehen.“
Emiliano Chaimite, Marita Schieferdecker-Adolph und Roman Kalex erzählen vom Trauerzug und den Angriffen der Nazis, Januar 2020 in Dresden
Nach dem Gottesdienst sind die Trauergäste mit etwa einhundert Neonazis konfrontiert, die sich auf dem Altmarkt gegenüber der Kreuzkirche versammelt haben. Sie brüllen „Ausländer raus“ und „Sieg Heil“ und greifen zielgerichtet die Teilnehmer*innen an, die sie für Nichtdeutsche halten.
Auch der anschließende Trauerzug von etwa 7.000 Menschen durch die Innenstadt wird immer wieder von Neonazis angegriffen. Sie versuchen, bewaffnet mit Ketten und Schlagstöcken, Migrant*innen zu attackieren und den Demonstrationszug mit Sieg-Heil-Rufen zu stürmen.
Am Platz der Einheit, dem Ort des Verbrechens, umstellen Einsatzkräfte der Polizei die Versammlung. Auch dort versuchen die Neonazis zu stören und durchbrechen die Sperre der Polizei, um erneut anzugreifen. Kleine Gruppen von Linken und Migrant*innen können die Neonazis schließlich in die Flucht schlagen.
Auf der Wiese in der Nähe des Tatortes wird ein Porträt von Jorge Gomondai abgelegt. Viele Menschen legen Blumen dazu und zünden Kerzen an. Eine Mahnwache formt sich, um den provisorischen Gedenkort gemeinsam zu bewachen.
Polizeiliche Ermittlungen zum Tod von Jorge Gomondai
Die polizeiliche und juristische Aufarbeitung des tödlichen rassistischen Angriffs auf Jorge Gomondai ist von Versäumnissen, Fehlern und Desinteresse an einer Strafverfolgung der Täter gekennzeichnet. Und auch die Arbeit der Polizei in dieser Nacht wirft Fragen auf.
Tatortskizze des Kreiskriminalamtes Dresden vom 31.03.1991, Quelle: Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden, 13363 Staatsanwaltschaft Dresden, Nr. 21.192
Ein Wochenende voller Gewalt
Dem Angriff auf Jorge Gomondai am Ostersonntag 1991 waren mehrere Gewalttaten von Rechten vorausgegangen. Zerstörungen, Angriffe und Provokationen durch Neonazis in mehreren Stadtvierteln, inbesondere in der Dresdner Neustadt, hatten schon seit dem Gründonnerstag zu einer Vielzahl von Polizeinotrufen geführt. Unter anderem hatten Neonazis an diesem Osterwochenende das Restaurant Tivoli zerstört und die dort arbeitende Kellnerin bewusstlos geschlagen. Auch das Kulturzentrum Scheune war am 29. März 1991 angegriffen worden. Die Betreiber*innen hatten, nachdem die Neonazis ins Gebäude eingedrungen waren, verzweifelte Notrufe an die Polizei abgesetzt. Die Gruppe aus ost- und westdeutschen Neonazis, die später Jorge Gomondai angreift, darunter auch der Hauptangeklagte, war an mehreren dieser Gewalttaten beteiligt gewesen.
Aus der Urteilsschrift im Fall Jorge Gomondai geht folgender Ablauf hervor:
In der Tatnacht vom 30. auf den 31. März 1991 ist eine sechsköpfige Mobile Einsatzgruppe (MEG) der Abteilung Zentrale Kräfte Schutzpolizei für das Stadtgebiet eingeteilt. Diese Gruppe war eigens gebildet worden, da sich besonders im alternativen Stadtviertel Neustadt seit Oktober 1989 Angriffe durch Neonazis häuften. Sie soll rund um die Uhr im Stadtteil Streife fahren.
Am 30. März 1991 treffen sich die Täter, die in dieser Nacht Jorge Gomondai angreifen werden, bereits tagsüber in der Gaststätte Tor. Gegen 20 Uhr brechen sie zum Neustädter Bahnhof auf. Ein Teil der Täter fährt mit dem Zug nach Radebeul in die Diskothek „Sekte“ und gegen 1 Uhr nachts wieder zurück. Dabei werden sie ständig von einer Polizeistreife begleitet. Bei ihrer Ankunft am Neustädter Bahnhof filmen die Beamten der Mobilen Einsatzgruppe die Neonazis mit einer Videokamera, da sie Ausschreitungen erwarten. Von dort aus gehen die Täter zum Café 100 in der Alaunstraße.
Der andere Teil der Gruppe fährt bis etwa 1 Uhr nachts ins Diskozelt am Ostragehege und anschließend mit der Straßenbahn in die Dresdner Neustadt, um diejenigen, die nach Radebeul gefahren waren, wiederzutreffen.
Auf der Alaunstraße angekommen, wird den Neonazis im Jugendtreff „Scheune“ der Einlass verwehrt. Sie treten deshalb die Glastür ein. Anschließend ziehen sie weiter zum Café 100. Vor dem Café tritt der spätere Hauptangeklagte Alexander W. einen jungen Mann, der mit seinen Freund*innen ebenfalls auf dem Weg von der Scheune ins Café 100 ist, so lange brutal gegen den Kopf und in den Oberkörper, bis dieser bewusstlos liegenbleibt. Als er sich aufzurichten versucht, kommen W. und seine Mittäter zurück und treten ihn erneut nieder. Als er schließlich erwacht, kann er sich nicht mehr bewegen. Zwei Freunde rufen die Polizei, die aber nicht kommt.
Von dort zieht die Neonazigruppe weiter, die Alaunstraße wieder bergab zum Platz der Einheit. Auf dem Weg greifen die Täter noch weitere Personen an und beschädigen willkürlich Sachen. An der Einmündung der Alaunstraße auf den Platz der Einheit kontrolliert die Mobile Einsatzgruppe der Polizei ihre Personalien und durchsucht sie kurz. Anschließend gehen die Neonazis ungehindert weiter zur nahen Straßenbahnhaltestelle am Platz der Einheit. Ein Teil der Gruppe will nach Dresden-Gorbitz fahren, um bei einem Bekannten zu übernachten, ein anderer Teil nach Dresden-Plauen. Der spätere Hauptangeklagte und ein Mitangeklagter wollen in die entgegengesetzte, nördliche Richtung nach Klotzsche fahren. In ihrer aggressiven Stimmung wünschen sich die Neonazis noch „eine Fuhre N*“, als kurz darauf die Straßenbahn mit Jorge Gomondai im letzten Wagen einfährt. Einer der Täter sagt „Da sitzt doch einer“, und die gesamte Gruppe steigt zu ihm in den Wagen ein.
Obwohl die Polizei die Gruppe Neonazis den gesamten Abend über beobachtet, begleitet, filmt und auch kontrolliert, ist sie während der beiden schwersten Angriffe nicht vor Ort und nicht erreichbar.
„Der vor zwei Jahren von Rechtsradikalen provozierte Tod des Mocambiquaners Gomondai hätte durch ein entschiedenes Eingreifen der Polizei möglicherweise verhindert werden können. Das ergab die Vernehmung des Leiters der damaligen mobilen Einsatzgruppe, Gabler, am Mittwoch vor dem Dresdner Landgericht.“
Nach dem Notruf durch den Taxifahrer, der Jorge Gomondai gefunden hatte, kommen die Beamten der Mobilen Einsatzgruppe zum Tatort. Sie zeigen kein Interesse an einer Strafverfolgung, sondern behaupten, dass sie nur auf Antrag des Geschädigten Ermittlungen aufnehmen könnten. Den bewusstlos auf der Straße liegenden Jorge Gomondai stigmatisieren sie als Betrunkenen. Weder nehmen sie die Personalien der Zeug*innen auf, noch sichern sie Spuren am Tatort.
Erst nach Jorge Gomondais Tod im Krankenhaus, über eine Woche nach der Tat, nimmt eine Sonderkommission beim Dezernat Staatsschutz Ermittlungen auf. Neun Tage nach dem Angriff bittet die Polizei über die Tageszeitungen unter anderem den Taxifahrer und seine Fahrgäste, die Jorge Gomondai Hilfe leisteten und den Notruf absetzten, sich zu melden.
Es dauert zwei Wochen, bis elf Neonazis im Alter zwischen 17 und 27 Jahren von der Polizei zur Vernehmung vorgeladen werden, obwohl sie bereits in der Tatnacht namentlich erfasst worden waren. Auch hier ist das polizeiliche Vorgehen schlampig, fehlerhaft und von Desinteresse an einer Strafverfolgung geprägt. Die rechtlich notwendigen Belehrungen vor einigen Vernehmungen der Beschuldigten bleiben aus und Vernehmungsprotokolle werden nicht unterschrieben. Sie können daher später im Prozess nicht eingeführt werden.
Die Videoaufzeichnung der Polizei, die die Gruppe der Angreifer in der Tatnacht am Bahnhof Neustadt zeigte, wird von Beamten gelöscht, ohne dass eine Auswertung stattfindet. Außerdem wird der Straßenbahnwaggon ohne Spurensicherung und technische Untersuchung an der Tür verschrottet.
Hauptstadt der rechten Bewegung
„In der sächsischen Landeshauptstadt konzentrieren sich immer mehr rechtsradikale Gruppierungen. (…) Übergriffe auf AusländerInnen und linke Kneipen gehören inzwischen zur Tagesordnung. Die Behörden reagieren darauf hilflos, spielen die Probleme herunter – und genehmigen großzügig rechte Veranstaltungen und Aufzüge.“ – taz, 14.05.1991
© Umbruch Bildarchiv
Trotz des öffentlichen Entsetzens über den Tod von Jorge Gomondai und die Neonaziangriffe auf das Gedenken an ihn bauen Rechte und Neonazis weitgehend unbehelligt von Polizei und Justiz ihre Organisationsstrukturen und ihre Präsenz in Dresden weiter aus.
Nur zwei Wochen nach dem Tod von Jorge Gomondai „feiern“ Neonazis den Geburtstag von Adolf Hitler mit einem Aufmarsch durch Dresden. Seit Monaten schon werden alternative Szenekneipen, besetzte Häuser, linke Treffpunkte und Menschen systematisch von rechten Schlägern überfallen. An den Angriffen beteiligen sich Neonazis aus Dresden, aber auch aus Ost- und Westdeutschland, die versuchen, Dresden als „Hauptstadt der Bewegung“ aufzubauen. In der Neujahrsnacht 1991 war das alternative Café Bronxx durch einen Brandanschlag zerstört worden. Ganze Stadtteile, wie Gorbitz, werden von gewaltbereiten Neonaziskins kontrolliert und für viele andere dadurch zu No-Go-Areas.
Hilfe durch die Polizei können die Angegriffenen nicht erwarten, wie der neue Polizeipräsident von Dresden anlässlich seines Amtsantritts deutlich macht.
„Besonders die Linksradikalen würde ich als hirn- und seelenlos bezeichnen. Und manchmal brauchen sich die Cafés auch nicht zu wundern, wenn sie den Glatzen erst fünf Viertel Bier verkaufen, um Umsatz zu machen, und dann die Randale beginnt.“
Im Juni 1991 wird der Neonazi und Zuhälter Rainer Sonntag bei Auseinandersetzungen um Schutzgelder im Rotlichtmilieu von Konkurrenten erschossen. Zu seiner Beerdigung versammeln sich rund 2.000 Anhänger*innen zum bis dahin größten Neonaziaufmarsch in Deutschland seit 1945. Die Stadtverwaltung hatte den Aufmarsch trotz internationaler Proteste nicht verboten. Die Neonazis zeigen verfassungsfeindliche Symbole und skandieren faschistische Parolen, ohne dass die Polizei eingreift.
Für Migrant*innen sind nicht nur diese Aufmärsche gefährlich. Täglich sind sie rassistischen Anfeindungen und Angriffen ausgesetzt. Hilfe bekommen sie in der Regel weder von ihren Nachbar*innen noch von der Polizei.
Olga M. ist schwanger, als ein fremder Mann sie auf offener Straße angreift.
„Die haben mich angeguckt, und niemand hat reagiert.“
Olga M. und Emiliano Chaimite berichten von alltäglicher rassistischer Gewalt Anfang der neunziger Jahre, Januar 2020 in Dresden
Die rassistische Gewalt wird durch große Teile der Gesellschaft ignoriert und verharmlost. Gleichzeitig versuchen Sozialarbeitende, engagierte Migrant*innen und politisch Aktive, die jugendlichen Neonazis noch zu erreichen. Sie verbinden damit die Hoffnung, erzieherisch oder argumentativ auf sie einzuwirken. Migrant*innen werben bei Rechten in deren Jugendclubs um Akzeptanz, indem sie dort kochen, musizieren und Vorträge halten. Sozialarbeitende verfolgen den Ansatz der „akzeptierenden Jugendarbeit“ und eröffnen jugendlichen Neonazis Räume, Treffpunkte und pädagogische Angebote. Sie hoffen, sie damit von ihren Gewalttaten abzuhalten. Rechte und faschistische Einstellungen bei Jugendlichen werden mit Orientierungslosigkeit und sozialer Unsicherheit nach der Wende entschuldigt. In diesem Klima können sich Neonazistrukturen weiter ausbreiten und festigen.
„Ich habe damals gedacht, es ist wichtig, an die rechtsextreme Szene ranzugehen.“
Emiliano Chaimite, Marita Schieferdecker-Adolph, Danilo Starosta und Kathrin Krahl erzählen von den Strategien gegen rechts, Januar 2020 in Dresden
Ein reichliches Jahr nach dem Tod von Jorge Gomondai, im Juni 1992, erhebt die Staatsanwaltschaft Dresden endgültig Anklage gegen drei Beschuldigte wegen gefährlicher Körperverletzung und fahrlässiger Tötung. Die Verhandlung soll zunächst vor dem Amtsgericht stattfinden. Die Staatsanwaltschaft erwartet also keine hohen Strafen. Auf Druck der Öffentlichkeit findet der Prozess schließlich am Landgericht Dresden statt.
Nur drei von elf Tatverdächtigen müssen als Angeklagte zum Prozess erscheinen. Gegen sieben andere Männer, die in der Straßenbahn nachweislich am Angriff beteiligt waren, werden die Ermittlungsverfahren eingestellt. Sie werden lediglich als Zeugen geladen.
Nach mehreren Verschiebungen beginnt der Prozess schließlich erst am 15. September 1993, zweieinhalb Jahre nach der Tat und über ein Jahr nach der Anklageerhebung. Angesetzt sind zunächst neun Verhandlungstage.
Während des Prozesses – in 15 Verhandlungstagen über einen Zeitraum von sechs Wochen – wechselt mehrmals der*die anwesende Staatsanwält*in. Insgesamt werden 70 Zeug*innen gehört.
Die Situation im Gerichtssaal empört viele Prozessbeobachter*innen. Sie ist geprägt von der Anwesenheit der Neonazis, von rassistischen Zwischenrufen und Störungen. Auch der Hitlergruß wird vor Gericht gezeigt. Sogar Richter Kindl und Verteidiger Schille verwenden laut Presseberichten für Jorge Gomondai immer wieder rassistische Bezeichnungen wie das N-Wort.
„Die Beweislage ist so schlecht, wie die Ermittlungen schlampig waren.“
Anfangs sieht es auch für Pressevertreter*innen noch so aus, als stünde die Tatsache, dass Jorge Gomondai aus der Bahn gestoßen worden war, außer Zweifel. Aber während der Verhandlungstage zeichnet sich zunehmend ab, dass der Prozess das Tatgeschehen nicht aufklären würde. Die Ermittlungsversäumnisse und Fehler von Polizei und Staatsanwaltschaft belasten die Beweisaufnahme massiv. Die entscheidende Frage bleibt vor Gericht offen: Ist Jorge Gomondai von den Neonazis aus der Straßenbahn gestoßen worden? Oder ist er aus Angst vor der aggressiven Gruppe aus der Tür gesprungen?
In Erwartung eines viel zu milden Urteils oder gar eines Freispruchs aus Mangel an Beweisen ruft das Bündnis gegen Rassismus für den 28. Oktober 1993, den Abend vor der Urteilsverkündung, zu einer Demonstration unter dem Motto „Kein Freispruch für seine Mörder!“ vor dem Dresdner Landgericht auf.
Am Tag der Urteilsverkündung ist der bisher zuständige Staatsanwalt Jörg Klein nicht mehr in Dresden und wird durch seine Stellvertreterin ersetzt. Die meisten der dreißig Zuschauer*innenplätze sind mit Neonazis besetzt, die sich durch lautes Gelächter und rassistische Zwischenrufe bemerkbar machen.
Die Staatsanwaltschaft hatte in der Sitzung am 21. Oktober 1991 einen Schuldspruch wegen fahrlässiger Tötung mit einer Bewährungsstrafe von 15 Monaten für Walter B. und Torsten R. beantragt und 18 Monaten Jugendstrafe ohne Bewährung für den Hauptangeklagten Alexander W. Er war zum Tatzeitpunkt 17 Jahre alt und ist damit der jüngste Angeklagte.
Zweieinhalb Jahre nach der Tat, am 29. Oktober 1993, spricht die 10. Große Strafkammer des Landgerichts Dresden im Saal 120 das Urteil im Fall Jorge Gomondai.
Von elf Tatverdächtigen wird lediglich Alexander W. (19) wegen fahrlässiger Tötung und zweier gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzungen zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten verurteilt. Er hatte in derselben Nacht auf der Alaunstraße einen weiteren Mann zweimal bewusstlos geschlagen und getreten. Die zwei Mitangeklagten Walter B. (21) und Torsten R. (22) werden zu Haftstrafen von je 18 Monaten verurteilt, ausgesetzt auf drei Jahre Bewährung. In der Verurteilung aller drei Angeklagten geht das Gericht damit über die Strafanträge der Staatsanwaltschaft hinaus.
Am 30. September 1994 wird die von der Verteidigung eingelegte Revision des Urteils abgewiesen. Seit dem 1. Oktober 1994 ist das Urteil rechtskräftig.
Die meisten am gewaltsamen Tod von Jorge Gomondai beteiligten Neonazis müssen sich dafür nie verantworten. Sie profitierten von der Kultur der Straflosigkeit für schwerste rassistische und rechte Gewalttaten in den neunziger Jahren.
Der Gedenkgottesdienst und der Weg zum Ort des Verbrechens 1991 legen den Grundstein für ein jährliches Ritual bis in die Gegenwart. Viele Menschen haben dafür gekämpft, dass das Gedenken an Jorge Gomondai am 6. April zu einem festen Termin im politischen Kalender Dresdens geworden ist. Über die Form des Gedenkens gab es Debatten und Auseinandersetzungen. Es ist vielfältig.
Im September 1991, nur wenige Monate nach dem Mord an Jorge Gomondai, greifen Neonazis und Nachbar*innen im sächsichen Hoyerswerda die Wohnheime von mosambikanischen Vertragsarbeiter*innen und von Geflüchteten an. Das Pogrom dauert mehrere Tage. Polizei und andere staatliche Stellen schützen die Angegriffenen nicht. Stattdessen werden die ehemaligen Vertragsarbeiter*innen und die Geflüchteten mit Bussen aus der Stadt gebracht, während die Angreifer*innen in Fernsehinterviews Hoyerswerda als „ausländerfrei“ und „Fanal für Deutschland“ bejubeln.
Gedenken an Jorge Gomondai, 1. April 1992, Quelle: Stadtarchiv Dresden, 17.6.2.1 Lothar Lange, Nr. 102b.02
Auch unter dem Eindruck dieses Pogroms versammeln sich etwa 1.000 Menschen am 1. April 1992 zum ersten Jahrestag des tödlichen Angriffs auf Jorge Gomondai. Nach einem Gedenkgottesdienst demonstrieren sie zum Tatort am inzwischen in Albertplatz umbenannten Platz der Einheit.
Ein Transparent an diesem Gedenktag erinnert auch an Hoyerswerda und fragt angesichts des unwidersprochenen Rassismus und der Organisierung der Rechten, ob Hoyerswerda schon vergessen sei. Gleichzeitig veranschaulicht ein anderes Transparent, wie alleingelassen sich die Erinnernden mit der großen Präsenz der Neonazis und mit rechter Gewalt fühlen. Der Einsatzbericht der Polizei zitiert die Aufschrift: „Ausländer, laßt uns mit diesen Deutschen nicht allein“.
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Zwei Jahre nach dem tödlichen Angriff auf Jorge Gomondai, im April 1993, hat der Prozess gegen die Täter immer noch nicht begonnen. Im Vorbereitungskreis „Gomondai-Gedenktag“ organisieren sich jetzt Kirchen, die Ausländerbeauftragte der Stadt Dresden, Vereine, der Studentenrat, Gewerkschaften und Vertreter*innen von Parteien. Im Aufruf zum Gedenken anlässlich des zweiten Todestages von Jorge Gomondai erinnern sie an siebzehn Menschen, die im Jahr 1992 durch rechte Gewalttaten starben.
Das Bündnis fordert die Stadtverordnetenversammlung auf, das Aufstellen eines Gedenksteins am Tatort zu unterstützen.
Die Stadt Dresden genehmigt zwar nach monatelangem Streit die provisorische Aufstellung eines Gedenksteins, hat aber eigene Pläne: Am 31. März 1993, einen Tag vor der eigentlichen Gedenkveranstaltung, enthüllt der Dresdner Oberbürgermeister Herbert Wagner (CDU) eine kleine, von der Stadt gestiftete Gedenktafel am ehemaligen Wohnheim von Jorge Gomondai in der Holbeinstraße 42. Anwesend sind nur etwa sechzig Personen. Der Text auf der Tafel erwähnt weder Rassismus noch rechte Gewalt in Dresden.
Gedenktafel der Stadt Dresden Foto: By Paulae – Own work, CC BY 3.0
Die Gedenkfeier zum zweiten Todestag findet am Tag nach der Einweihung der Gedenktafel, am 1. April 1993, in der Kreuzkirche statt. Nabil Yacoub vom Verein Ausländerrat Dresden beschreibt die drastischen Folgen der ständigen Bedrohungen und der rassistischen politischen Debatte für Migrant*innen. Die mediale Präsenz von Schlagworten wie „Überfremdungsgefahr“, „Asylantenschwemme“ und „Das Boot ist voll“ verletze die Betroffenen und bringe sie in Gefahr. Migrant*innen seien ausgeschlossen aus der Gesellschaft. Er klagt auch die ungehinderte Ausbreitung und Organisierung der Rechten an.
Im Anschluss an den Gottesdienst beteiligen sich etwa 1.000 Menschen an einem Schweigemarsch zum Albertplatz. Dort stellen sie auf Initiative des Vereins Ausländerrat den sogenannten „Stein des Anstoßes“ auf, gestiftet von den Sächsischen Sandsteinwerken. Die Teilnehmenden legen Blumen nieder und zünden Kerzen an.
Der Verein Ausländerrat Dresden setzt sich fortan für den dauerhaften Verbleib des Steines ein. Die Stadt verweigert jahrelang ihre endgültige Zustimmung und duldet den Stein nur als vorläufig.
Erst am 25. Januar 1995 teilt Oberbürgermeister Herbert Wagner (CDU) schließlich mit, es gebe keine Bestrebungen, den Gedenkstein für Jorge Gomondai zu entfernen. Er habe dort seinen dauerhaften Platz gefunden.
Seit seiner Aufstellung ist der Gedenkstein Ziel von rechten Angriffen.
Anfang Januar 1994 wird er nachts umgestoßen. Mehr als vier Wochen liegt er auf der Wiese. Die Stadt lässt ihn nicht aufrichten. Anfang Februar 1994 birgt der Verein Ausländerrat Dresden den Stein und organisiert die Wiederaufstellung für den 3. März 1994.
Die Stadt Dresden bezahlt einen Sockel, die Sächsischen Sandsteinwerke, die den Stein auch gestiftet hatten, übernehmen die Aufstellung. Das Ereignis wird begleitet von Mahnenden, die mit Schildern an Jorge Gomondai erinnern und fordern: „Gedenkstein für Jorge Gomondai bleibt“.
Foto: Dietrich Flechtner, Archiv des Ausländerrat Dresden e. V.
Foto: Dietrich Flechtner, Archiv des Ausländerrat Dresden e. V.
Noch im gleichen Monat wird der Gedenkstein mit Farbe besprüht. Rechte und Neonazis schänden und beschädigen den Stein in den Folgejahren immer wieder.
Gleichzeitig entwickelt sich der Platz zu einem Ort, an dem antirassistische Initiativen und Migrant*innenorganisationen bis heute auch anderer rassistischer Angriffe und Anschläge gedenken. Schon mehrmals richteten sie provisorische Gedenkorte in unmittelbarer Nähe zu diesem Gedenkstein ein. Bis heute halten sie bei Demonstrationen gegen rechte Gewalt die Erinnerung an Jorge Gomondai lebendig.
„Gedenken wir aller Opfer des rechten Terrors. Tragen wir unseren Protest gegen eine staatliche Politik, die rechts blind ist und nach links um sich schlägt, offensiv auf die Straße.“
Junge Linke und die Antifa Dresden sind von Beginn an am Gedenken an Jorge Gomondai beteiligt.
1995 ergänzt die Antifa Dresden auf einer Pressekonferenz im Vorfeld des 4. Todestages von Jorge Gomondai den Aufruf des Vorbereitungskreises. Sie thematisiert weitere Todesopfer und die inhumane Behandlung von Geflüchteten an deutschen Flughäfen. Die Gruppe lehnt es ab, die Genehmigung des Gedenksteines durch den Dresdner Oberbürgermeister als Zeichen der Hoffnung zu werten. Sie skandalisiert stattdessen, dass überhaupt so lange darum gekämpft werden musste.
Die antifaschistischen Jugendlichen wollen eine lautstarke Demonstration mit Trommelgruppen und Transparenten, um politische Forderungen und Wut auf die Straße zu tragen. Das ist der Abschied vom bisherigen Konzept des Schweigemarsches, der seit dem ersten Todestag ein fester Bestandteil des Gedenkens geworden war.
„Ein zentraler Punkt war immer die Demo am 6. April in Gedenken an Jorge Gomondai.“
Emiliano Chaimite und Kathrin Krahl berichten von den unterschiedlichen Ansätzen im Gedenken an Jorge Gomondai, Dresden im Januar 2020
Die immer weiter verschärfte Asylgesetzgebung und die endlose Abfolge rassistischer Gewalttaten führen Ende der neunziger Jahre zur Gründung von antirassistischen Initiativen. Sie fordern offene Grenzen, kritisieren Abschiebungen und warnen vor dem drohenden Einzug der NPD in die Parlamente. Als Verantwortliche benennen sie nicht alleine Neonazis, sondern die ganze deutsche Gesellschaft.
In Dresden ruft die antirassistische Gruppe „kein mensch ist illegal“ mit einem eigenen Aufruf zur Gedenkdemonstration am 6. April 1999 auf und verknüpft das Gedenken an Jorge Gomondai mit grundsätzlichen antirassistischen Forderungen.
Nach Konflikten mit dem bisherigen Vorbereitungskreis des Gomondai-Gedenkens rufen junge Antirassist*innen ab 2000 zu eigenen antirassistischen Demonstrationen anlässlich des Gedenkens an Jorge Gomondai auf.
Die Neonaziszene kann sich trotz aller Proteste und Warnungen auch in den 2000er Jahren in Dresden und im gesamten Freistaat Sachsen immer weiter etablieren. Viele Linke und Migrant*innen versuchen vergeblich, diese Entwicklung zu skandalisieren und zu bekämpfen. Die sächsische Landesregierung und die politischen Gremien auf kommunaler Ebene leugnen oder bagatellisieren rechte Gewalt und Rassismus. In diesem politischen Klima zieht die NPD 2004 in den Sächsischen Landtag ein. In Dresden findet auch über viele Jahre der größte Neonaziaufmarsch in Europa am Jahrestag der Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg statt.
Dennoch erinnern jedes Jahr zum Todestag Menschen in Dresden an den rassistischen Mord an Jorge Gomondai.
Foto: Gabriele Seitz, Archiv des Ausländerrat Dresden e. V.
Foto: Archiv des Ausländerrat Dresden e. V.
Foto: Archiv des Ausländerrat Dresden e. V.
Foto: Archiv des Ausländerrat Dresden e. V.
Jorge-Gomondai-Platz
Jahrelang haben Migrant*inneninitiativen für ein angemessenes Gedenken an Jorge Gomondai gekämpft. Auf ihr beharrliches Drängen bringen im April 2006 endlich mehrere Fraktionen den Vorschlag zur Benennung eines Platzes nach Jorge Gomondai in den Dresdner Stadtrat ein.
Im September 2006 beschließt der Stadtrat, einen bisher namenlosen Platz in Dresden nach Jorge Gomondai zu benennen. Ausgewählt wird dafür der Ort, an dem Jorge Gomondai am 31. März 1991 aus der Straßenbahn gestoßen wurde, der Platz zwischen Hauptstraße und Albertplatz.
Im darauffolgenden Jahr, am 30. März 2007, wird der Platz eingeweiht. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik wird ein Platz nach einem Opfer rassistischer Gewalt benannt.
Der Verein Afropa steht schon länger in Kontakt mit der Familie Gomondai in Mosambik. Die Mitglieder setzen sich dafür ein, dass die Familie des Toten in das Gedenken einbezogen wird und bei der Zeremonie dabei sein kann. Erst auf ihr Drängen sieht sich die Stadt dazu verpflichtet, zwei Personen der Familie aus Mosambik zur Einweihung einzuladen. Jorge Gomondais Mutter Luisa Nhandima und sein Bruder Pita Gomondai reisen nach Sachsen. Sechzehn Jahre nach dem Tod ihres Sohnes und Bruders haben sie erstmals direkten Kontakt zu offiziellen Vertreter*innen der Stadt Dresden.
„Der Schmerz setzt sich fort und bleibt in Erinnerung.“
Emiliano Chaimite und Pita Gomondai sprechen über die Einweihung des Jorge-Gomondai-Platzes und die Bedeutung für die Familie, Dresden im Januar 2020 und Chimoio, Mosambik im Februar 2020
Luisa Nhandima und Pita Gomondai sollen nach dem Willen der Stadt nur für zwei Tage Gäste in Dresden sein. Sie sollen vom anderen Ende der Welt anreisen, der Zeremonie beiwohnen und am nächsten Tag wieder zurückfliegen. Emiliano Chaimite und der Ausländerbeirat akzeptieren dieses Vorgehen nicht und organisieren auf eigene Faust einen längeren Aufenthalt.
Es dauert Jahrzehnte, bis die Familie offiziell über das rassistische Motiv für den gewaltsamen Tod ihres Sohnes und Bruders informiert wird. Bis dahin bleibt für sie unbekannt, warum er angegriffen worden war. Diese Ungewissheit verursacht Zweifel und Unsicherheit. Pita Gomondai fordert deshalb stellvertretend für alle Angehörigen von Betroffenen rechter Gewalt:
„Die Familie muss über alle Hintergründe informiert werden. Denn der Schmerz setzt sich fort und bleibt in Erinnerung. Er verbreitet sich in der ganzen Familie. Es gibt Zweifel: Hat er vielleicht doch etwas Schlimmes getan? Sie müssen es wissen, es ist wichtig in ihrem Leben.“