Am 6. April 1991 stirbt Jorge Gomondai in Dresden. Er ist 28 Jahre alt.

Neonazis hatten ihn wenige Tage vorher, in der Nacht zum Ostersonntag, dem 31. März 1991, in einer Straßenbahn rassistisch beleidigt, geschlagen, bedroht und dann aus der fahrenden Bahn gestoßen. Er erleidet bei diesem Sturz schwerste Kopfverletzungen und stirbt nach sechs Tagen im Koma auf der Intensivstation der Medizinischen Akademie Dresden.

Jorge Gomondai ist das erste Todesopfer rassistischer Gewalt in Sachsen nach der Wiedervereinigung. Sein Tod hat das Leben vieler Menschen in Dresden nachhaltig verändert.

„Dann war nichts mehr so, wie es mal war.“

Emiliano Chaimite, Dresden 2020

Emiliano Chaimite, Olga M. und Danilo Starosta erinnern sich an das Jahr 1991 und den Tod von Jorge Gomondai, Dresden im Januar 2020

Jorge mit Bruder Pita und Mutter Luisa Nhandima Gomondai, 1965 © Pita Gomondai

„Ich habe mich für ihn gefreut und gesagt: Aber vergiss deinen Vater und deine Mutter nicht.“

Luisa Nhandima Gomondai, 2020 in Chimoio, Mosambik

Jorge Gomondais Mutter Luisa Nhandima Gomondai und seine Geschwister Pita, Carlotta und Angelina, Februar 2020 in Chimoio, Mosambik

Leben in der DDR

Am 4. November 1980 kommen die ersten neunzig Vertragsarbeiter*innen aus Mosambik im Fleischkombinat Dresden an. Vorgesehen ist ein Aufenthalt von vier bis fünf Jahren, in denen die jungen Mosambikaner*innen für die Betriebe der DDR arbeiten und eine Ausbildung erhalten sollen. Anschließend, so sieht es der Staatsvertrag von 1979 vor, sollen sie nach Mosambik zurückkehren und dort „den Aufbau des sozialistischen Heimatlandes“ vorantreiben.

„Unsere Klassenpflicht gebietet es, den moçambiquanischen Werktätigen zu helfen, die negativen Folgen des Jahrhunderte währenden Kolonialregimes schrittweise zu überwinden.“

aus: „Schlachthofturm“, Betriebszeitung des VEB Schlacht- und Verarbeitungsbetriebes Dresden, Ausgabe 17 vom 29. September 1980, S. 5

Jorge Gomondai (re.) mit einem Kollegen bei der Wurstproduktion („Schlachthofturm“ 1987, Ausgabe 7, S. 5)

Das Wohnheim

In einem zehnstöckigen Plattenbau in der Florian-Geyer-Straße 48 in Dresden-Johannstadt richtet der Betrieb ein Wohnheim für die mosambikanischen Vertragsarbeiter*innen ein. Ein ganzer Hauseingang in diesem Block ist für sie reserviert. Kontakt mit deutschen Nachbar*innen gibt es deshalb kaum. Sechs bis acht Kolleg*innen teilen sich eine Wohnung. Eine eigene Wohnung außerhalb des Wohnheims zu mieten ist nicht gestattet.

Jorge wohnt mit fünf Kollegen in einer Dreiraumwohnung im sechsten Stock.

„Für mich war das keine Ausbildung, das war nur Kraftarbeit .“

Olga M., Dresden 2020

Olga M. erzählt von ihrer Ankunft und ihrem Leben in der DDR und warum sie sich entschieden hat, in Deutschland zu bleiben, Januar 2020

„In meiner Wahrnehmung gibt es die friedliche Revolution so nicht.“

Danilo Starosta, Dresden 2020

Danilo Starosta und Roman Kalex berichten über rechte Gewalt in Dresden Ende der achtziger Jahre, Dresden im Januar 2020

Neuer Nationalismus

Das Ende der DDR und der Anfang der neunziger Jahre sind gezeichnet von einem Machtvakuum – der Staat, insbesondere die Strafverfolgungsbehörden, wirken in den neuen Bundesländern überwiegend hilfslos und ohnmächtig. Für viele Deutsche äußert sich das in ungekannten Freiräumen.

Unter dem Deckmantel einer falsch verstandenen neuen „Meinungsfreiheit“ verbreiten offen rechte Jugendliche ihre rassistischen und nationalistischen Ansichten. Die Elterngeneration unterstützt sie dabei oder schaut weg. Gewalt und Bedrohung gegen Migrant*innen und Linke sind an der Tagesordnung und werden von den meisten Deutschen als normal hingenommen.

Todesursache: Rassismus

In den frühen Morgenstunden des 31. März 1991 steigt Jorge Gomondai in die Straßenbahn Linie 7 ein. Er ist auf dem Heimweg in das Wohnheim im Stadtteil Johannstadt. Kurz nach 4 Uhr steigen am Platz der Einheit in der Dresdner Neustadt die letzten Fahrgäste aus. Nun steigt eine Gruppe von etwa zehn Neonazis zu Jorge Gomondai in den hintersten Waggon ein.

Diese Gruppe aus ost- und westdeutschen Neonazis war schon vorher gewalttätig durch das alternative Viertel Neustadt gezogen und hatte dort Kneipen angegriffen und mindestens eine weitere Person zusammengeschlagen. Bei der Polizei waren deshalb in dieser Nacht schon mehrere Notrufe eingegangen. Die Polizei hatte diese Gruppe den gesamten Abend über beobachtet und kurz vor dem Betreten der Straßenbahn am Platz der Einheit noch kontrolliert – allerdings ohne Folgen.

Tatverlauf ungeklärt

Trauer um Jorge Gomondai

„Wir haben unsere Zeremonien, wir brauchen unseren Bruder hier.“

Pita Gomondai, Februar 2020 in Chimoio, Mosambik

Angelina, Carlotta, Antonio, Pita und Xavier Gomondai erinnern sich an die Beerdigung ihres Bruders, Februar 2020, Chimoio, Mosambik

„Das kann jedem von uns täglich, jede Stunde passieren.“

Nabil Yacoub, Sprecher des Ausländerrats Dresden während der Trauerandacht für Jorge Gomondai am 11. April 1991

„Das ist das Minimum, was ich erwarte, dass Menschen dafür auf die Straße gehen.“

Roman Kalex, Januar 2020 in Dresden

Emiliano Chaimite, Marita Schieferdecker-Adolph und Roman Kalex erzählen vom Trauerzug und den Angriffen der Nazis, Januar 2020 in Dresden

Polizeiliche Ermittlungen zum Tod von Jorge Gomondai

Die polizeiliche und juristische Aufarbeitung des tödlichen rassistischen Angriffs auf Jorge Gomondai ist von Versäumnissen, Fehlern und Desinteresse an einer Strafverfolgung der Täter gekennzeichnet. Und auch die Arbeit der Polizei in dieser Nacht wirft Fragen auf.

„Der vor zwei Jahren von Rechtsradikalen provozierte Tod des Mocambiquaners Gomondai hätte durch ein entschiedenes Eingreifen der Polizei möglicherweise verhindert werden können. Das ergab die Vernehmung des Leiters der damaligen mobilen Einsatzgruppe, Gabler, am Mittwoch vor dem Dresdner Landgericht.“

nd, 07.10.1993: „Anschlag auf Gomondai durch Polizei begünstigt?“

Hauptstadt der rechten Bewegung

„In der sächsischen Landeshauptstadt konzentrieren sich immer mehr rechtsradikale Gruppierungen. (…) Übergriffe auf AusländerInnen und linke Kneipen gehören inzwischen zur Tagesordnung. Die Behörden reagieren darauf hilflos, spielen die Probleme herunter – und genehmigen großzügig rechte Veranstaltungen und Aufzüge.“ – taz, 14.05.1991

„Besonders die Linksradikalen würde ich als hirn- und seelenlos bezeichnen. Und manchmal brauchen sich die Cafés auch nicht zu wundern, wenn sie den Glatzen erst fünf Viertel Bier verkaufen, um Umsatz zu machen, und dann die Randale beginnt.“

Polizeipräsident Rolf Feucht, Sächsische Zeitung, 07.11.1991

„Die haben mich angeguckt, und niemand hat reagiert.“

Olga M., Januar 2020 in Dresden

Olga M. und Emiliano Chaimite berichten von alltäglicher rassistischer Gewalt Anfang der neunziger Jahre, Januar 2020 in Dresden

„Ich habe damals gedacht, es ist wichtig, an die rechtsextreme Szene ranzugehen.“

Marita Schieferdecker-Adolph, 1990-2010 Auländerbeauftragte in Dresden

Emiliano Chaimite, Marita Schieferdecker-Adolph, Danilo Starosta und Kathrin Krahl erzählen von den Strategien gegen rechts, Januar 2020 in Dresden

„Die Beweislage ist so schlecht, wie die Ermittlungen schlampig waren.“

taz, 22.10.1993

Gedenken an Jorge Gomondai

Der Gedenkgottesdienst und der Weg zum Ort des Verbrechens 1991 legen den Grundstein für ein jährliches Ritual bis in die Gegenwart. Viele Menschen haben dafür gekämpft, dass das Gedenken an Jorge Gomondai am 6. April zu einem festen Termin im politischen Kalender Dresdens geworden ist. Über die Form des Gedenkens gab es Debatten und Auseinandersetzungen. Es ist vielfältig.

Gedenken an Jorge Gomondai, 1. April 1992, Quelle: Stadtarchiv Dresden, 17.6.2.1 Lothar Lange, Nr. 102b.02

Gedenktafel der Stadt Dresden  Foto: By Paulae – Own work, CC BY 3.0

  • Wiederaufstellung des Gedenksteins 1994

    Foto: Dietrich Flechtner, Archiv des Ausländerrat Dresden e. V.

  • Foto: Dietrich Flechtner, Archiv des Ausländerrat Dresden e. V.

„Gedenken wir aller Opfer des rechten Terrors. Tragen wir unseren Protest gegen eine staatliche Politik, die rechts blind ist und nach links um sich schlägt, offensiv auf die Straße.“

Aufruf der Antifa Dresden zum 3. Gomondai-Gedenktag in der Szenezeitschrift „Venceremos“, Nr. 4 vom März 1994

„Ein zentraler Punkt war immer die Demo am 6. April in Gedenken an Jorge Gomondai.“

Kathrin Krahl, damals Bündnis „kein mensch ist illegal“, Januar 2020 in Dresden

Emiliano Chaimite und Kathrin Krahl berichten von den unterschiedlichen Ansätzen im Gedenken an Jorge Gomondai, Dresden im Januar 2020

  • 2001, 10. Gomondai-Gedenktag, am Taschenbergpalais

    Foto: Gabriele Seitz, Archiv des Ausländerrat Dresden e. V.

  • 2000, 9. Gomondai-Gedenktag, Kreuzkirche

    Foto: Archiv des Ausländerrat Dresden e. V.

  • 1998, 7. Gomondai-Gedenktag, Altmarkt

    Foto: Archiv des Ausländerrat Dresden e. V.

  • 1997, 6. Gomondai-Gedenktag, Hauptstraße

    Foto: Archiv des Ausländerrat Dresden e. V.

Jorge-Gomondai-Platz

Jahrelang haben Migrant*inneninitiativen für ein angemessenes Gedenken an Jorge Gomondai gekämpft. Auf ihr beharrliches Drängen bringen im April 2006 endlich mehrere Fraktionen den Vorschlag zur Benennung eines Platzes nach Jorge Gomondai in den Dresdner Stadtrat ein.

Im September 2006 beschließt der Stadtrat, einen bisher namenlosen Platz in Dresden nach Jorge Gomondai zu benennen. Ausgewählt wird dafür der Ort, an dem Jorge Gomondai am 31. März 1991 aus der Straßenbahn gestoßen wurde, der Platz zwischen Hauptstraße und Albertplatz.

„Der Schmerz setzt sich fort und bleibt in Erinnerung.“

Pita Gomondai, im Februar 2020 in Chimoio, Mosambik

Emiliano Chaimite und Pita Gomondai sprechen über die Einweihung des Jorge-Gomondai-Platzes und die Bedeutung für die Familie, Dresden im Januar 2020 und Chimoio, Mosambik im Februar 2020

„Die Familie muss über alle Hintergründe informiert werden. Denn der Schmerz setzt sich fort und bleibt in Erinnerung. Er verbreitet sich in der ganzen Familie. Es gibt Zweifel: Hat er vielleicht doch etwas Schlimmes getan? Sie müssen es wissen, es ist wichtig in ihrem Leben.“

Pita Gomondai, Bruder von Jorge Gomondai, im Februar 2020 in Chimoio, Mosambik