Foto: Stephan Grimm – own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=38008761
In den frühen Morgenstunden des 18. Januar 1996 steht die dreistöckige Unterkunft für Geflüchtete in der Lübecker Hafenstraße 52 in Flammen. Sieben Kinder und drei Erwachsene sterben in dem brennenden Haus oder bei dem Versuch, sich durch Sprünge aus den Fenstern zu retten. Es ist einer der folgenschwersten Brandanschläge in der Geschichte der Bundesrepublik. Vieles deutet auf vier Neonazis als Täter hin. Dennoch beschuldigt die Staatsanwaltschaft Lübeck einen Hausbewohner und verfolgt die Spuren nicht konsequent, die zu den vier polizeibekannten Neonazis führen. Die Täter sind bis heute straffrei.
Die Todesopfer:
Françoise Makodila Landu, 33 Jahre
Christine Makodila, 17 Jahre
Miya Makodila, 14 Jahre
Christelle Makodila Nsimba, 8 Jahre
Legrand Makodila Mbongo, 5 Jahre
Jean-Daniel Makodil Kosia, 3 Jahre
Monika Maiamba Bunga, 27 Jahre
Nsuzana Bunga, 7 Jahre
Sylvio Bruno Comlan Amoussou, 27 Jahre
Rabia El-Omari, 17 Jahre
„Für uns war klar: Das war ein Anschlag!“
Ottodzo Dope (Marie) Agonglovi, Abdulla Mehmud, Holger Bachmann-Wulf, Gabriele Heinecke, Jana Schneider, Adam Khalifi und Esperança Bunga über den Brandanschlag und die Straflosigkeit der Täter
Das Jahrzehnt neonazistischer Brandanschläge
Die 1990er Jahre sind von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt und Brand- und Sprengstoffanschlägen auf Migrant*innen und Geflüchtete geprägt. Rund 1600 Brandanschläge registriert das Bundesamt für Verfassungsschutz alleine im Zeitraum von 1990 bis 1996. Bei mehr als 90 Prozent war Rassismus das Motiv der Täter.
In Hoyerswerda und in Rostock werden in den Spätsommermonaten 1991 und 1992 die Wohnheime von ehemaligen DDR-Vertragsarbeiter*innen und Geflüchteten tagelang von einem rassistischen Mob belagert und von Neonazis angegriffen. In Solingen sterben fünf Angehörige der türkeistämmigen Famile Genç im Mai 1993 nach einem rassistischen Brandanschlag auf ihr Wohnhaus: Gürsün İnce (27), Hatice Genç (18), Gülüstan Öztürk (12), Hülya Genç (9) und Saime Genç (4).
Nur wenige Kilometer von Lübeck entfernt, in Mölln, werden Ende November 1992 Yeliz Arslan (10), Ayşe Yılmaz (14) und Bahide Arslan (51) bei einem rassistischen Brandanschlag ermordet, neun weitere Angehörige der Familien Arslan und Yilmaz überleben schwer verletzt. Auch hier hatten Neonazis zwei Wohnhäuser türkeistämmiger Familien in Brand gesetzt.
Rechte Parteien im Aufwind
Seit Ende der 1980er Jahre erlebt Deutschland einen Rechtsruck in den Parlamenten. Rechtsextreme Parteien wie die Deutsche Volksunion (DVU) und die Republikaner haben einen enormen Mitgliederzuwachs und erzielen ihre besten Wahlergebnisse. 1989 sind die Republikaner mit mehr als 7 Prozent ins Europaparlament und das Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen; 1992 erhalten sie 10,9 Prozent der Stimmen in Baden-Württemberg. Im gleichen Jahr schafft es auch die rechtsextreme DVU mit 6,3 Prozent in den Landtag Schleswig-Holsteins.
Antisemitische Anschläge in Lübeck
Nach einer antisemitischen Kampagne der Republikaner kommt es auch in Lübeck in den frühen 1990er Jahren zu einer Serie rechter und antisemitischer Gewalttaten. In der Nacht vom 24. auf den 25. März 1994, einen Tag vor Beginn des jüdischen Pessach-Festes, verüben vier Neonaziskinheads einen Brandanschlag auf die Lübecker Synagoge. Mit Molotowcocktails setzen sie einen Vorraum der Synagoge in Flammen. Der Raum brennt vollständig aus. Die in den Wohnungen über der Synagoge lebenden Menschen können sich retten und bleiben glücklicherweise unverletzt.
Auf diesen ersten Brandanschlag auf eine Synagoge in Deutschland nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft reagieren Menschen im In- und Ausland mit großer Besorgnis und Anteilnahme, mit Mahnwachen und Demonstrationen. Einen Monat nach dem Anschlag nimmt die Polizei vier Neonazis fest. Sie werden zu Bewährungs- und Haftstrafen zwischen zwei- und viereinhalb Jahren verurteilt.
Ein Jahr später, am 8. Mai 1995 – dem Gedenktag zum 50. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus –, wird auf das Gelände der Synagoge erneut ein Anschlag verübt. Ein Schuppen brennt völlig aus. Die Täter werden nie ermittelt und sind bis heute straffrei.
Im Juni 1995 wird der stellvertretende Bürgermeister Lübecks Dietrich Szameit (SPD) Ziel eines rechtsextremen Briefbombenanschlags. Er hatte zuvor das milde Urteil gegen die Täter des ersten Anschlags auf die Synagoge kritisiert. Bei dem Briefbombenanschlag, der zu einer Serie von Bombenanschlägen durch österreichische und deutsche Neonazis mit vier Toten und einem Dutzend Verletzten von 1993 bis 1996 gehört, wird ein Mitarbeiter der SPD-Geschäftsstelle in Lübeck schwer verletzt.
„Wir hatten schon vor der deutschen Vereinigung eine aktive Naziszene in Lübeck.“
Der Aktivist Holger Bachmann-Wulf, die Rechtsanwältin Gabriele Heinecke und Abdulla Mehmud vom Lübecker Flüchtlingsforum sprechen über das politische Klima vor dem Anschlag 1996, Juli 2024
Die Unterkunft für Geflüchtete in der Hafenstraße 52
In dem dreistöckigen Wohnhaus in der Lübecker Hafenstraße 52 leben im Januar 1996 mehr als fünfzig Personen. Seit Mitte der 1980er wird das ehemalige Seemannsheim als Unterkunft für Geflüchtete genutzt. Mehrere Familien u. a. aus dem Libanon, Syrien, Benin, Togo, Angola und Zaire, der heutigen Demokratischen Republik Kongo, sind hier untergebracht. Viele von ihnen leben schon mehrere Jahre in dem maroden Gebäude in sehr beengten Wohnverhältnissen.
Ungewisse Zukunft
Die Zukunftsperspektiven vieler Hausbewohner*innen sind ungewiss. Sie befinden sich entweder in einem laufenden Asylverfahren oder leben mit einer Duldung und der Angst vor Abschiebungen in Diktaturen und Bürgerkriege in ihren Herkunftsländern. Die wenigsten dürfen legal arbeiten. Anträge auf Umzug in eigene Wohnungen werden abgelehnt.
Trotz der schwierigen Umstände arrangieren sich die Bewohner*innen miteinander. Die ehemalige Hafenkneipe im Erdgeschoss des von der Diakonie verwalteten dreistöckigen Eckhauses wird für gemeinsame Feiern genutzt.
Winterfeier in der Hafenstraße 52, Foto: Privatarchiv Familie El-Omari
Ottodzo Dope Agonglovi war vor der Diktatur aus Benin geflohen und 1991 nach Lübeck gekommen. Damals heißt sie noch Marie, sie hat den christlichen Namen später abgelegt. Sie lebt mit ihren drei Kindern Nora, Richel und Ray in zwei Zimmern in der Hafenstraße. Der ältere Sohn Ray ist damals 14 Jahre alt. Esperança Bunga war 1993 in Lübeck geboren worden. Ihre Eltern waren mit ihren zwei Schwestern vor dem Bürgerkrieg aus Angola nach Deutschland geflohen. Alle wollen hier in Sicherheit leben und sich ein neues Leben aufbauen.
„Wir Kinder haben alle zusammen gespielt.“
Ottodzo Dope (Marie) Agonglovi, Esperança Bunga und Ray Sossou sprechen über ihr Leben in der Hafenstraße 52 in Lübeck, Mai 2024
Ray Sossou (re.), Lübeck 1996, Foto: Marily Stroux
Die Brandnacht
Am 18. Januar 1996 um 3:41 Uhr geht der Notruf von Françoise Makodila bei der Lübecker Polizei ein. Sie hat Angst um ihr Leben. Dies ist der Mitschnitt des Telefonats:
Françoise M.: Hallo! Feuer! Polizei – Hafenstraße 52
Notruf Polizei Lübeck: Hafenstraße 52?
Françoise M.: Ja!
Notruf Polizei Lübeck: Was ist denn da?
Françoise M.: Mach schnell, bitte. Kommen Sie schnell, bitte!
Notruf Polizei Lübeck: Was ist da? Feuer?
Françoise M.: Ja! … Les Nazis! Kommen zu Hafenstraße!
Notruf Polizei Lübeck: Ja, ist klar. Wir kommen dahin. Wie ist Ihr Name? Hallo? …
Hier bricht das Telefonat ab.
Als die Einsatzkräfte der Feuerwehr um 3:47 Uhr in der Hafenstraße eintreffen, zeigt sich ihnen ein schockierendes Bild. Das Haus steht komplett in Flammen. Ein Zugang zum Haus ist nicht möglich, die Bewohner*innen versuchen sich über die Fenster und das Dach zu retten.
Françoise Makodila und ihre fünf Kinder Christine, Miya, Christelle, Legrand und Jean-Daniel sterben kurze Zeit nach ihrem Notruf in dem brennenden Haus. Das Fenster ihres Zimmers hatte sich nicht öffnen lassen. Auch Rabia El-Omari und Sylvio Amoussou verlieren in der Nacht ihr Leben. Monique Maiamba Bunga springt in Todesangst und Verzweiflung mit ihrer siebenjährigen Tochter Nsuzana im Arm aus der Dachwohnung im dritten Stock. Beide überleben den Sprung nicht. Zehn Menschen werden bei dem Brandanschlag ermordet, 38 Menschen werden, zum Teil schwer, verletzt.
Im Video schildern Ottodzo Dope Agonglovi und Ray Sossou ihre Erinnerungen an die Brandnacht.
Triggerwarnung: Das Video enthält die Schilderung traumatischer Erlebnisse und Gewalt.
„Ich habe Ray gehört: Mama, steh auf, das Haus brennt!“
Ottodzo Dope (Marie) Agonglovi und Ray Sossou erinnern sich an die Brandnacht, Mai 2024
Nach dem Brand
Die Bewohner*innen werden zunächst in verschiedene Krankenhäuser verteilt, teilweise ohne genau zu wissen, wo die anderen sind, wer überlebt hat, und wer nicht. Der damals 14-jährige Ray Soussou ist am Rücken verletzt. Er wird allein in ein Krankenhaus gebracht und dort schon am nächsten Tag ohne Dolmetscher*in und in Abwesenheit seiner Mutter von der Polizei verhört. Ein Teil der Bewohner*innen wird in einer leerstehenden Kaserne untergebracht. Die Überlebenden werden nach ihren Herkunftsländern getrennt auf verschiedene Gebäude des riesigen Geländes verteilt. Sie haben keine eigenen Kochmöglichkeiten, sondern zentrale Essensausgaben und -zeiten. Im nächstgelegenen Supermarkt dürfen sie nicht einkaufen, weil sie den Stadtbezirk Lübeck nicht verlassen dürfen und der Laden außerhalb der Stadtgrenze liegt.
Auch Ottodzo Dope Agonglovi kommt mit ihren Kindern in die unwirtlichen Kasernengebäude, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden sind. Die Kinder sind traumatisiert, psychologische Unterstützung bekommen sie nicht. Es dauert sechs Monate, bis die Familie eine eigene Wohnung bekommt. Für Esperança Bunga, ihren Vater und ihre Schwester dauert es ein Jahr, bis sie aus der Kaserne ausziehen können.
gezeichnet von Nora oder Richel Agonglovi
Fotos: Marily Stroux
Bürgermeister handelt menschlich
Noch in der Brandnacht kommt Michael Bouteiller, damals SPD-Bürgermeister von Lübeck, an den Brandort. Er spricht mit den Überlebenden und versucht zu helfen und zu trösten. Er umarmt eine Frau und weint mit ihr. Ein Kamerateam filmt ihn dabei, das Bild geht durch die Medien. Das bringt ihm viel Kritik ein. CDU-Politiker werfen ihm vor, er verhalte sich nicht angemessen in seinem Amt und stelle einen „Betroffenheitskult“ zur Schau.
Daniel Makodila verliert bei dem Brand seine Frau und seine fünf Kinder. Er will sie in ihrem Heimatland in der Nähe der Familie beerdigen. Monique und Nsuzana Bunga sollen in Angola begraben werden. Da es damals keinen islamischen Friedhof in Lübeck gibt, entscheidet die Familie, Rabia El-Omari im Libanon zu bestatten. Damit einige der überlebenden Familienmitglieder ihre Angehörigen beerdigen und danach wieder nach Deutschland einreisen können, stellt ihnen Bürgermeister Michael Bouteiller unbürokratisch Reisedokumente aus. Er fordert außerdem die Abschaffung von Sammelunterkünften für Geflüchtete. Michael Bouteiller bekommt deshalb massiven Ärger mit der SPD, seiner eigenen Partei. Der damalige Innenminister Schleswig-Holsteins Ekkehard Wienholtz verhängt eine Disziplinarstrafe gegen ihn.
„Ich bin immer davon ausgegangen, wenn die Verfassung, die wir haben in Deutschland, wenn die überhaupt was wert ist, dann ist die Menschenwürde wichtiger als irgendwelche Passausstellungskriterien. Das hat mir einiges eingebracht an disziplinarischen Maßnahmen.“
Die Ermittlungen
Der Lübecker Brandanschlag ist bis heute nicht aufgeklärt. Das Vorgehen und die Mutmaßungen der Ermittlungsbehörden und der Staatsanwaltschaft stehen teilweise im direkten Widerspruch zu den Fakten und den Informationen und Analysen von Anwält*innen, unabhängigen Brandschutzexpert*innen, kritischen Journalist*innen und Aktivist*innen. Einigkeit gibt es nur darüber, dass der Brand vorsätzlich gelegt wurde. Doch über den genauen Ort des Brandausbruchs und die Frage, wer als mögliche Täter*innen infrage kommen könnte, gibt es auch fast 30 Jahre später gegensätzliche und widersprüchliche Annahmen und Festlegungen.
Eine Rekonstruktion wichtiger Ereignisse
Wenige Stunden nach dem Brandanschlag werden vier junge Männer zwischen 17 und 26 Jahren aus Grevesmühlen (Mecklenburg-Vorpommern) vorläufig festgenommen, die eindeutige Spitznamen wie „Klein Adolf“ tragen und mit der dortigen Neonaziszene sympathisieren. Drei von ihnen waren Polizisten aufgefallen, weil sie das brennende Haus in der Hafenstraße beobachtet hatten. Vor Ort werden daher ihre Personalien aufgenommen. Der Vierte ist mit einem gestohlenen PKW unterwegs.
Bereits einen Tag später werden die vier Männer aus Grevesmühlen wieder auf freien Fuß gesetzt und die Staatsanwaltschaft Lübeck verkündet in einer Pressekonferenz, es bestünde kein Tatverdacht mehr.
Rekonstruktion mutmaßlicher Aufenthaltsorte der vier Neonazis aus Grevesmühlen in der Brandnacht
Audio: Erklärung zur Karte, Quelle: Initiative Hafenstraße ‘96
Die Anschuldigung: Wie Überlebende zu vermeintlichen Tätern werden
Statt der vier Neonazis wird von der Staatsanwaltschaft ein Hausbewohner als mutmaßlicher Täter präsentiert: Safwan E., damals 20 Jahre alt. Anlass dafür ist die zeitlich verzögerte Aussage des Rettungssanitäters Jens L. Der junge Libanese habe ihm während der Notversorgung in der Brandnacht mit den Worten: „wir waren’s“ die Tat gestanden, behauptet Jens L. Es habe Streit im Haus mit einem Familienvater gegeben, habe Safwan E. hinzugefügt, und „sie“ hätten sich rächen wollen und ihm Benzin (oder eine andere brennbare Flüssigkeit) an die Tür gekippt.
Untersuchungshaft für einen Hausbewohner
Safwan E. lebte mit seinen Eltern und sechs Geschwistern in der Hafenstraße 52. Sie waren vor dem Bürgerkrieg aus ihrer libanesischen Heimat ins vermeintlich sichere Deutschland geflohen. Safwan E. gilt als besonnen und hilfsbereit. In der Nacht des Brandes kann er sich mit mehreren Hausbewohner*innen auf das Dach des Hauses retten. Dort hilft er anderen auf die Rettungsleiter der Feuerwehr und steigt selbst als letzter vom Dach.
Safwan E. hat in der polizeilichen Befragung eine plausible Erklärung für die Aussage des Sanitäters: Direkt nach seiner Rettung hat er mehreren Personen von der Beobachtung seines Vaters erzählt, der gehört hatte, wie das Gartentor quietscht und es danach knallt. Beim Blick aus dem Fenster hatte er Feuerschein aus dem Vorbau des Hauses gesehen. „Die haben das gemacht“, gibt Safwan E. die Vermutung seines Vaters weiter. Mit „die“ hatte sein Vater Neonazis gemeint.
Auszug aus den Gerichtsakten, Beschuldigtenvernehmung Safwan E. am 20.01.1996
Die Ermittler*innen glauben Safwan E. nicht. Die Aussage des Sanitäters reicht aus, um ihn für fast sechs Monate in Untersuchungshaft zu bringen und zwei Strafprozesse gegen ihn zu führen.
„Wir waren schockiert, als einer von uns als Täter beschuldigt wurde.“
Ottodzo Dope (Marie) Agonglovi und ihr Sohn Ray Sossou, Abdulla Mehmud vom Flüchtlingsforum Lübeck und Holger Bachmann-Wulf sprechen über die Anschuldigungen gegen Safwan E., Mai/Juli 2024
Indizien gegen vier Männer aus Grevesmühlen
Die vier jungen Männer aus Grevesmühlen sind nicht fest in den Neonazistrukturen organisiert, sie sympathisieren aber offen mit dem Nationalsozialismus und geben sich keine Mühe, ihren Rassismus und ihren Antisemitismus gegenüber den Ermittler*innen zu verbergen.
Das zentrale Argument zur Entlastung der vier Grevesmühlener ist, dass sie laut Staatsanwaltschaft zur Tatzeit Alibis gehabt hätten. Drei von ihnen seien an einer von der Hafenstraße weit entfernten Tankstelle gesichtet worden. Doch mitten in der Nacht kann der Weg von der Tankstelle zur Hafenstraße wesentlich schneller zurückgelegt werden als von der Staatsanwaltschaft zu Gunsten der vier angenommen wird. Der vierte Grevesmühlener gibt an, dass er mit einem geklauten PKW bereits in seinen Heimatort zurückgefahren war. Da die Uhrzeit des Brandausbruchs nie genau bestimmt werden konnte, handelt es sich bei den vermeintlichen Alibis um Mutmaßungen, die nie von einem Gericht überprüft werden.
„Man wusste ja nie, wann der Brand wirklich ausgebrochen ist, so dass den Grevesmühlenern alle Zeit der Welt im Prinzip zur Verfügung gestanden hätte, um vorher den Brand zu legen.“
Gegen die vier jungen Männer gibt es weitere Indizien. Besonders alarmierend sind Befunde der Gerichtsmedizin, die frische Sengspuren im Gesicht und an den Haaren von dreien nachweisen, die nicht älter als 24 Stunden sind.
Die Erklärungen der Grevesmühlener für die versengten Gesichtshaare sind abenteuerlich. Sie handeln von einem gequälten und angezündeten Hund, einem angeheizten Ofen und falsch abgezapftem Benzin aus einem Mofa. Sachverständige des LKA überprüfen die Geschichten. Bei keiner der Erklärungen kann plausibel rekonstruiert werden, dass die Brandspuren dadurch tatsächlich zustande gekommen sein könnten. Zudem widersprechen sie in ihren zeitlichen Schilderungen den Ergebnissen der Gerichtsmedizin, die von frischen Brandspuren spricht.
Mehrmals gestehen zwei der Grevesmühlener Neonazis im Zeitraum zwischen 1996 und 1998 ihre Tatbeteiligung gegenüber unterschiedlichen Zeugen und Journalisten. „Klein Adolf“ zum Beispiel legt im Februar 1998 während einer Inhaftierung in der Justizvollzugsanstalt Neustrelitz ein umfassendes Geständnis ab.
Er war aufgrund einer anderen Straftat zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden und bittet seinen Abteilungsleiter in der JVA Neustrelitz um ein Gespräch. Dabei räumt er ein, dass und wie er und seine drei Freunde den Brandanschlag in der Hafenstraße verübt haben, und unterschreibt ein fünfseitiges Protokoll über den Gesprächsinhalt.
Anschließend informiert die Gefängnisleitung die Staatsanwaltschaft Lübeck umgehend über das Geständnis. Doch die Vertreter der Staatsanwaltschaft, die daraufhin anreisen, reden „Klein Adolf“ das Geständnis so lange aus, bis er es widerruft.
„Und wenn man den weiteren Verlauf anguckt: Sobald es ein Geständnis gab, insbesondere von „Klein Adolf“, ist sowohl der Staatsanwalt als auch der leitende Beamte des Landeskriminalamtes hingefahren, (…) und hat ihm dieses Geständnis wieder ausgeredet.“
Viele Fragen bleiben unbeantwortet, und der langen Liste von Ungereimtheiten wird nicht nachgegangen. Die Ermittlungen gegen die Grevesmühlener werden am 2. Juni 1999 endgültig eingestellt.
Beschuldigt: Ein Bewohner
Mit der Festnahme von Safwan E. legt sich die Staatsanwaltschaft auf ihn als möglichen Täter fest. Die Aussage des Sanitäters, der Brandanschlag sei aufgrund eines Streits mit einem Familienvater innerhalb des Hauses verübt worden, stützt die These der Staatsanwaltschaft, wonach der Brand im 1. Stock des Hauses gelegt worden sei. Allerdings findet sich an der von der Staatsanwaltschaft lokalisierten Brandausbruchsstelle weder eine Tür, noch lebt dort ein Familienvater. Die Verteidigung von Safwan E. – die Rechtsanwältinnen Gabriele Heinecke und Barbara Klawitter – zieht als unabhängigen Brandschutzexperten Prof. Dr. Ernst Achilles hinzu, der zu einem ganz anderen Ergebnis kommt: Er vermutet die Ausbruchsstelle des Feuers im Vorbau des Hauses, was eine Brandlegung von außen wahrscheinlich macht. Dieser Theorie gehen die Ermittlungsbehörden nicht weiter nach.
Im hölzernen Eingangsbereich des Hauses werden tiefe Einbrennungen übersehen und Brandschutt nicht systematisch untersucht. Beweismittel, die womöglich Auskunft über den Brandausbruchsort hätten geben können, verschwinden spurlos.
Der Tod von Sylvio Amoussou
Besonders verstörend ist die ungeklärte Todesursache von Sylvio Amoussou. Die vollständig verkohlte Leiche des 27-Jährigen wird im Vorbau des Hauses gefunden. Um seinen Körper ist ein lockerer Draht gewunden, dessen Ursprung Rätsel aufgibt. Als einziger unter den Opfern stirbt Sylvio Amoussou nicht an einer Rauchvergiftung.
Doch weder vonseiten der Polizei noch der Staatsanwaltschaft werden die notwendigen Untersuchungen und Ermittlungen durchgeführt, um die Umstände des Todes von Sylvio Amoussou zu ermitteln und die vielen ungeklärten Fragen zu beantworten. Bereits elf Tage nach dem Brandanschlag wird die Leiche zur Feuerbestattung freigegeben.
Foto: Sylvio Amoussou, ca. 1995, Quelle: privat
Polizei und Staatsanwaltschaft, ebenso wie eine Reihe von Journalist*innen großer Tageszeitungen bemühen sich intensiv und akribisch, mehr Beweise für die vermeintliche Täterschaft von Safwan E. zu finden. Doch der einzige Beleg bleibt die Aussage des Sanitäters. Die Hausbewohner*innen versichern immer wieder, dass es keinen nennenswerten Streit im Haus gegeben hat. Auch ihre Erinnerungen an den Brandverlauf stimmen nicht mit den Theorien der Staatsanwaltschaft überein. Immer wieder äußern die Überlebenden ihr Unverständnis über die Anklage und stellen die Frage, wie ihr freundlicher Nachbar den Brand mitten in der Nacht gelegt haben soll, um sich anschließend im obersten Stockwerk schlafen zu legen, dann kurze Zeit später von der Feuerwehr vom Dach des brennendes Hauses gerettet zu werden – und nur knapp mit dem eigenen Leben davon zu kommen? Niemand, der Safwan E. kennt, traut ihm eine solche Wahnsinnstat zu.
So sehr sich Staatsanwaltschaft und Ermittler*innen auch bemühen, sie finden keine weiteren Indizien gegen Safwan E. Deshalb lassen sie Gespräche mit Familienangehörigen aufzeichnen, die ihn während seiner Untersuchungshaft besuchen. Von der Auswertung der Tonbandmitschnitte erhofft sich die Staatsanwaltschaft, neue Beweise vorlegen zu können. Die Tonbänder sollen im weiteren Verlauf der Strafverfahren noch eine wichtige Rolle spielen.
„Die waren blind. Also der Oberstaatsanwalt Wille war blind in der Frage der Ermittlung. Deshalb ist auch (…) ein fairer, klarer Umgang mit der Frage dieser vier möglichen Täter nie objektiv ermittelt worden.“
Der erste Prozess findet ab dem 16. September 1996 vor der Jugendkammer des Landgerichts Lübeck statt und dauert mehr als acht Monate. Das mediale Interesse ist groß. Wie im Gerichtssaal sind die Positionen auch unter den Medienvertreter*innen gespalten. Einige positionieren sich in ihren Berichten eindeutig und unterstützen die Theorie der Staatsanwaltschaft von einer Täterschaft aus dem Inneren des Hauses. Andere Journalist*innen wahren eine kritische Distanz zu den Ermittlungsbehörden. Sie gehen von einer Brandlegung von außen aus und recherchieren zu den mutmaßlichen Tätern im Neonazi-Milieu.
„Es war der Aufbau einer Geschichte, die von vorne bis hinten nicht stimmt.“
Gabriele Heinecke, Verteidigerin von Safwan E., und Holger Bachmann-Wulf, damals Prozessbeobachter, Juli 2024
Die Staatsanwaltschaft und viele Medien streuen immer wieder einen nebulösen Verdacht gegen die Hausbewohner*innen. Der Vorwurf: Sie würden lügen und damit die wahren Täter schützen. Im Gerichtssaal und einigen Medien wird über Streit, Intrigen, Kriminalität, sogar Prostitution spekuliert – ohne jeglichen Faktenbezug. Heute erinnern viele Aspekte dieser rassistischen Täter-Opfer-Umkehr an die Kriminalisierung und Stigmatisierung der Hinterbliebenen der NSU-Mord- und Anschlagsserie. Denn die Lügen über die vermeintlich kriminellen Aktivitäten der Hausbewohner*innen haben zwar nichts mit der konkreten Anklage gegen Safwan E. zu tun, aber sie dienen der Staatsanwaltschaft dazu, das Narrativ von einem anrüchigen Milieu und Leben in der Hafenstraße 52 zu festigen.
Auch Prozessbeobachter*innen kritisieren den Umgang der Staatsanwaltschaft mit dem Angeklagten immer wieder scharf.
„Die Staatsanwälte mißachten ein Grundprinzip der Strafprozeßordnung: daß die Anklage bewiesen werden muß, nicht der Angeklagte seine Unschuld beweisen muß.“
Die Tonbandmitschnitte, die während der Untersuchungshaft von Safwan E. angefertigt werden, lässt das Landgericht Lübeck nicht als Beweismittel zu. Die Richter vertreten die Auffassung, dass der Besucherraum einer Haftanstalt mit einer Privatwohnung zu vergleichen ist und Abhörmaßnahmen einer richterlichen Erlaubnis bedürfen. Am Ende der achtmonatigen Hauptverhandlung bleibt von der Anklage gegen Safwan E. nichts mehr übrig. Auch die Vertreter der Staatsanwaltschaft Lübeck fordert den Freispruch für Safwan E.
Safwan E. wird in erster Instanz freigesprochen, da keine Beweise für die Täterschaft gefunden werden konnten. Doch das Gericht macht in seiner schriftlichen Urteilsverkündung klar, dass es den einzigen Zeugen trotzdem für glaubwürdig hält. Die Aussage „wir waren’s“ könne zudem verschiedene Formen der Beteiligung bedeuten: aktive Mitwirkung, Anstiftung, Mittäterschaft oder Beihilfe. Möglich sei außerdem, dass Safwan E. mit der Aussage nicht sich selbst, sondern „wir, die Hausbewohner“ gemeint habe.
„All diese Fragen haben nichts mit der Aufklärung des rassistischen Brandanschlags zu tun. Sie wurden nur gestellt, um uns verdächtig zu machen und die wirklichen Täter zu schützen. Wir und sonst niemand sollen das Haus angesteckt haben. Nur uns soll eine so furchtbare Tat zuzutrauen sein. Trotz Freispruch haben sie uns verurteilt.“
Gegen das Urteil des Lübecker Landgerichts legt die Staatsanwaltschaft Lübeck Berufung ein. Der Bundesgerichtshof hebt den Freispruch auf und widerspricht der Interpretation, dass der Besucherraum einer Haftanstalt der eigenen Wohnung gleichgestellt sei. Damit dürfen die Mitschnitte der Gespräche von Safwan E. vor Gericht verwendet werden. Der Fall wird für eine neue Verhandlung an das Landgericht Kiel verwiesen. Anfang September 1999 beginnt der zweite Prozess. In ihm werden die Mitschnitte aus der Untersuchungshaft herangezogen. Ein Satz, den Safwan E. geäußert haben soll und auf den sich die Staatsanwaltschaft besonders stützt, ist: „Oh Gott, vergib mir.“ Nun stellt sich heraus, dass die erste Übersetzung der arabischen Gespräche teilweise aus dem Zusammenhang gerissen, ungenau und fehlerhaft gewesen war und entscheidende Aussagen nicht – wie die Staatsanwaltschaft vermutet hatte – Safwan E. belasten, sondern ihn im Gegenteil entlasten. Von dem Satz „Oh Gott, vergib mir“ bleibt nichts übrig.
Am 2. November 1999 spricht das Landgericht Kiel Safwan E. erneut frei. Dieses Urteil wird aber mit weit weniger medialer Aufmerksamkeit erfolgt als der erstinstanzliche Freispruch.
Trotz des zweifachen Freispruchs von Safwan E. werden die Ermittlungen gegen die verdächtigen Neonazis aus Grevesmühlen nicht wieder aufgenommen. Bis heute, fast 30 Jahre später, sind die Tatverantwortlichen für zehn Morde und 38 versuchte Morde straffrei.
Warum sich Staatsanwaltschaft und Ermittler*innen weigern, den vielen Indizien nachzugehen, ist unklar und bietet Raum für Vermutungen.
„Es gab Dinge, die sehr ungewöhnlich waren und sehr darauf hingewiesen haben, dass möglicherweise bei staatlichen Stellen etwas schiefgegangen ist. Dass sie vorher wussten, dass so was geplant war, nicht eingegriffen haben und dann die Katastrophe da war. Das halte ich für möglich. “
Die Familie El-Omari war mit acht Kindern vor dem zerstörerischen Bürgerkrieg aus dem Libanon geflohen, seit Juni 1990 leben sie in Lübeck in der Hafenstraße 52. Im Februar 1992 hatten sie zusammen mit den anderen Hausbewohner*innen die Hochzeit ihrer Tochter Nisrin gefeiert, zwei Jahre später war Adam geboren worden, das erste Enkelkind. Adam ist der Liebling und Stolz der Familie und sehr oft in der Hafenstraße zu Besuch. Zu seinem Onkel Rabia hat der kleine Junge ein besonders enges Verhältnis. Es ist nur ein Zufall, dass Adam in der Brandnacht nicht bei den Großeltern übernachtet.
Rabia El-Omari mit seinem Neffen Adam, Lübeck, Hafenstraße, 1995, Foto: Familie El-Omari
In der Brandnacht warnt Rabia El-Omari noch seinen Bruder Walid und dessen Ehefrau Rima Amine. Das frisch verheiratete Paar schläft hinter verschlossener Schlafzimmertür. Geweckt durch das Klopfen, können sich die beiden durch einen Sprung aus dem Fenster retten. Walid El-Omari verletzt sich dabei schwer. Für Rabia El-Omari gibt es kein Entkommen, er stirbt in dem brennenden Haus.
Die Familie überwindet den Tod des 17-jährigen Rabia nie. Sein Bruder Walid El-Omari erleidet mehrere Knochenbrüche und verbringt mehr als ein Jahr im Krankenhaus. Bis heute leidet er unter seinen Verletzungen und den traumatischen Erlebnissen der Brandnacht.
Nach dem Brand vertraut die Familie zunächst den deutschen Behörden und schenkt den Behauptungen der Polizei Glauben. Als die Ermittlungsbehörden Safwan E. als vermeintlichen Täter beschuldigen, vertrauen die El-Omaris darauf, dass die deutsche Justiz niemanden grundlos anklagen würde. Sie sagen im Prozess als Zeugen der Anklage aus.
Nach der Beweisaufnahme in zwei Prozessen und dem zweifachen Freispruch von Safwan E. steht auch für sie fest, dass die Anschuldigungen gegen ihn haltlos waren.
„Sie waren auch nach dem Brandanschlag ungewollt in diesem Land.“
Adam Khalifi erzählt vom Tod seines Onkels Rabia El-Omari und die Folgen für seine Familie, Mai 2024
Direkt nach der Brandnacht erfahren die Überlebenden aus der Hafenstraße zunächst viel Solidarität und Unterstützung aus der Bevölkerung. Es gibt eine große Spendenbereitschaft für die Betroffenen, die bei dem Brand alles verloren haben. Solidarische Menschen wie Abdulla Mehmud organisieren sich und gründen das Lübecker Flüchtlingsforum, das sich bis heute für die Rechte von Geflüchteten engagiert. Sie unterstützen die Überlebenden der Hafenstraße bei ihrem gerade erst beginnenden Kampf um ihr Bleiberecht und der Forderung nach Aufklärung des Brandanschlags.
aus: WIE OPFER ZU TÄTERN GEMACHT WERDEN: Fakten und Material zur Aufklärung über den Brandanschlag in Lübeck, Projektgruppe Antinazismus der IG Medien, 1996
Als Polizei und Staatsanwaltschaft nur wenige Tage nach dem Brand einen Bewohner der Brandstiftung beschuldigen, bricht die großzügige Spenden- und Hilfsbereitschaft der Bevölkerung in sich zusammen.
Auch Teile der Presse greifen das Narrativ der Ermittlungsbehörden sofort auf, sprechen von „antideutscher Hysterie“ und betonen, dass es in Lübeck keinen erneuten neonazistischen Brandanschlag gegeben habe.
Nora Agonglovi, ca.1997, Foto: Marily Stroux
Direkt nach dem Brandanschlag organisieren sich die Bewohner*innen der Hafenstraße mit ihren Unterstützer*innen selbst und helfen sich gegenseitig. Sie rufen zu Demonstrationen auf, geben Erklärungen und Interviews und erheben ihre Stimmen.
„Nach Wochen der Trauer wenden wir uns an die Öffentlichkeit. Nicht genug, dass wir zehn Menschen aus unserer Mitte verloren haben. Wir werden weiter gequält. Die Presse ist über uns hergefallen. Wir selber sollen den Brand gelegt haben. Unser Freund, Bruder und Sohn Safwan soll der Täter sein. Aber die wirklichen Täter laufen frei herum und werden nicht weiter verfolgt.
Wir haben in der Hafenstraße jahrelang zusammengelebt wie eine große Familie. Unsere Kinder haben überall im Haus miteinander gespielt – egal, ob sie schwarz oder braun oder weiß waren. Wir haben uns sehr gut verstanden.
(…)
Der Polizei haben wir gesagt, wo die meisten Menschen im Haus sind. Sie hat uns nicht geholfen. Die hat zugeschaut, bis die Feuerwehr kam. Mit schlimmen Knochenbrüchen, Brandverletzungen und Rauchvergiftungen sind wir in die Krankenhäuser gebracht worden. Viele von uns waren und sind schwer verletzt. Das hat die Polizei nicht interessiert. Noch in der Tatnacht haben sie uns langen und quälenden Verhören ausgesetzt. Wir wurden verdächtigt, selbst Schuld zu sein. Wir sind behandelt worden, wie die Täter, wie Verbrecher. Sie haben keine Rücksicht genommen auf unsere Trauer um die Menschen, die wir verloren haben. Zuerst wurden wir für dumm und primitiv gehalten. Wir sollen Feuer in den Wohnungen gemacht haben, wir sollen mit Benzin gehandelt haben, wir sollen an der elektrischen Anlage herum gespielt haben und so weiter. Das ist alles nicht wahr. Wir sind nicht dumm.
(…)Uns sind Wohnungen zugesagt worden. Es wird behauptet, alle hätten eine Woche nach dem Brandanschlag eine Wohnung erhalten. Auch das ist nicht wahr. Einige von uns leben noch heute in der Kaserne.
Wir wollen etwas anderes:
- Wir wollen einen unbefristeten und gesicherten Aufenthalt.
- Wir wollen eine menschenwürdige Unterbringung und Versorgung.
- Wir wollen das Ende der quälenden und erniedrigenden Verhöre.
- Wir wollen die Einstellungen der staatlichen Ermittlungen gegen uns.
- Wir wollen, dass Safwan sofort freigelassen wird und die Ermittlungen auch gegen ihn eingestellt werden.
- Wir wollen, dass die richtigen Täter gesucht und gefunden werden und dass unsere Beobachtungen ernst genommen werden.
- Wir wollen, dass unser Bericht öffentlich bekannt wird und unsere schlimmen Erfahrungen international untersucht werden.
Jahrelanger Kampf ums Bleiberecht
Obwohl der Bürgermeister Lübecks, Michael Bouteiller, die Forderungen der Bewohner*innen der Hafenstraße 52 nach einem dauerhaftem Bleiberecht unterstützt, leben sie weitere drei Jahre in Unsicherheit und Angst vor Abschiebung. Erst im Januar 1999, nach jahrelangem politischen Kampf, erhalten alle Überlebenden des Brandanschlags, die sich zu diesem Zeitpunkt noch in Deutschland aufhalten, eine unbefristete Aufenthaltbefugnis. Der Anordnung des damaligen Innenminister von Schleswig-Holstein Ekkehard Wienholtz (SPD) stimmt schließlich auch der damalige SPD-Bundesinnenminister Otto Schily zu.
Bewohner*innen der Hafenstraße und Freund*innen: Ottodzo Dope Agonglovi (2. v. r.), Ray Sossou (3. v. r.) ca. 1997, Lübeck, Foto: Marily Stroux
Victor Atoe: Überlebt und abgeschoben
Dieses Recht gilt nicht für Victor Atoe. Der Nigerianer überlebt den Brand schwerverletzt durch einen Sprung aus dem Fenster im ersten Stock. Dabei wird sein Sprunggelenk zertrümmert und muss operiert werden. Sein Asylantrag ist zu diesem Zeitpunkt schon abgelehnt.
Nach der Operation warnen die Ärzt*innen ausdrücklich vor einer Entzündungsgefahr, wenn die Schrauben und Metallplatten in seinem Bein nach sechs Monaten nicht entfernt werden. Dennoch schieben ihn die Behörden im Mai 1996 nach Nigeria ab. Drei Jahre später reist Victor Atoe mit einem entzündeten Bein wieder nach Deutschland ein – wenige Monate, nachdem allen Opfern des Brandanschlags von Lübeck eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zugesagt worden ist. Für Victor Atoe gelte das nicht, sagen die Behörden, da er sich zum Zeitpunkt des Erlasses nicht in der Bundesrepublik aufhielt. Über mehrere Jahre schöpft er alle juristischen Mittel zur Erlangung eines Bleiberechts aus. Die Situation ist zermürbend. Mehrere Gutachten bescheinigen ihm eine schwere Traumatisierung aufgrund seiner Erlebnisse. Aber selbst ein Antrag bei der Härtefallkommission des Landes Schleswig-Holstein wird abgelehnt. Am 14. Juli 2011 wird der mittlerweile 55-Jährige in Berlin in Abschiebehaft genommen und erst nach einem zehntägigen Hungerstreik wieder freigelassen. Aber sein Aufenthalt bleibt weitere zehn Jahre ungeklärt.
Bis heute erhält der von der Brandnacht und den Folgen schwer traumatisierte Victor Atoe kein dauerhaftes Bleiberecht in Deutschland.
Das Gedenken und die Forderung nach Aufklärung
Die solidarischen Aktivist*innen im Lübecker Flüchtlingsforum setzen sich nicht nur für die Rechte der Hafenstraßen-Bewohner*innen und die Aufklärung der Tat ein. Seit mehr als 25 Jahren organisieren sie auch das Gedenken, Mahnen und Erinnern an die Menschen aus der Hafenstraße 52.
Seit einigen Jahren hat sich aus einem Freund*innenkreis des Lübecker Flüchtlingsforum die Initiative Hafenstraße ’96 gegründet. Gemeinsam organisieren sie jedes Jahr eine Gedenkwoche um den 18. Januar in Lübeck. Diesem ehrenamtlichen und solidarischen Engagement ist es zu verdanken, dass das Thema in der Öffentlichkeit lebendig bleibt und dass an jedem Jahrestag des Brandanschlags an die Toten der Hafenstraße 52 gedacht und Aufklärung gefordert wird.
„Solange das Unrecht bleibt, werden wir diese Veranstaltung organisieren. “
Abdulla Mehmud vom Lübecker Flüchtlingsforum, Jana Schneider und Ebrahim Baddour von der Initiative Hafenstraße ’96 sprechen über ihr Engagement und das Gedenken, Mai 2024
Zum 25. Jahrestag des Brandanschlags startet die „Initiative Hafenstraße ’96“ im Januar 2021 eine Petition an den Landtag von Schleswig-Holstein. Gemeinsam mit zahlreichen Prominenten – darunter der ehemalige Landgerichtspräsident von Lübeck, der ehemalige Bürgermeister Michael Bouteiller, die deutsch-französische Journalistin Beate Klarsfeld und die Band Feine Sahne Fischfilet – fordert die Initiative einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Aufarbeitung der Behördenfehler im Zusammenhang mit dem Lübecker Brandanschlag von 1996 und zur Anerkennung eines rassistischen Tatmotivs:
„Wir fordern Sie auf, sich für die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses einzusetzen, um die Tat und die Ereignisse der Nacht des 18. Januars 1996 neu aufzuarbeiten, zu bewerten und in die Untersuchungen ein rassistisches Tatmotiv einzubeziehen. Mord verjährt nicht!“
Seit ihrem Start haben fast 10 000 Menschen die Petition unterschrieben.
Doch im Landtag von Schleswig-Holstein findet sich keine demokratische Fraktion, die die Petition aufgreifen will und einen Antrag auf einen Untersuchungsausschuss stellt – auch wenn Politiker*innen von den Grünen und der SPD einräumen, dass es zu gravierenden Ungereimtheiten und Fehlern bei den Ermittlungen gekommen sei. „Es scheint naheliegend, dass der Brandanschlag in der Lübecker Hafenstraße 1996 mit zehn Toten von vier Rechtsextremisten begangen wurde“, sagt etwa der Landtagsabgeordnete Jan Kürschner (Grüne) im Mai 2024 der Wochenzeitung Jungle World. Doch: „Rund 28 Jahre nach dem Anschlag sind viele der damals Verantwortlichen nicht mehr im Dienst beziehungsweise leben nicht mehr. Da macht ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss wenig Sinn“.
Zuletzt antwortet das Innenministerium in Kiel auf eine parlamentarische Anfrage von Abgeordneten der Grünen im Februar 2021: Die Ermittlungen gegen die vier Grevesmühlener Neonazis seien akribisch und erschöpfend geführt worden und allen Hinweisen sei nachgegangen worden. Versäumnisse von Polizei und Justiz seien nicht bekannt.
Gedenkstein Hafenstrasse 52, 2014, Foto: Peter Oldekop, CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons
Für die Betroffenen, aber auch für die die Stadt Lübeck und die Gesellschaft, ist es wichtig, dass die Wahrheit ans Licht kommt und nichts unversucht bleibt, um die Straffreiheit für die Täter zu beenden. Dass es auch nach mehr als dreißig Jahren Straflosigkeit möglich ist, neonazistische Brandanschläge aufzuklären und die Mörder zu verurteilen, hat das Urteil im November 2023 im Prozess am Oberlandesgericht Koblenz zum Mord an Samuel Kofi Yeboah im September 1991 bei einem Neonazi-Brandanschlag gezeigt. Im Landtag vom Saarland hat inzwischen auch ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zu Fehlern von Polizei und Justiz begonnen. Die Initiative Hafenstraße ’96 und die Opferberatungsstelle zebra fordern deshalb, dass der Generalbundesanwalt die Ermittlungen auch zum Brandanschlag in Lübeck 1996 übernimmt und den Fall neu aufrollt.
Seitdem das Stadttheater Lübeck das Stück „Hafenstraße“ mit zahlreichen Interviews von Überlebenden und Aktivist*innen aufführt, wird in der Stadt wieder mehr über die Folgen der Brandnacht und die fehlende Aufklärung diskutiert. Dazu trägt auch das jährliche Gedenken am 18. Januar am Mahnmal für die Opfer des Brandanschlags bei, das von den Ehrenamtlichen der Initiative Hafenstraße ’96 organisiert wird. Doch für die Überlebenden rennt die Zeit davon. Sie wollen, dass die Täter endlich ermittelt und verurteilt werden. Und dass sie als Opfer eines rassistischen Brandanschlags anerkannt werden.
„Wir wollen nicht mehr warten. Keiner von uns, der das überlebt hat.“
Abdulla Mehmud, Esperança Bunga, Ray Sossou und Ottodzo Dope (Marie) Agonglovi über ihre Forderungen und das Gedenken, Mai/Juli 2024
Unser besonderer Dank gilt den Überlebenden des Brandanschlags Esperança Bunga, Ray Sossou und Ottodzo Dope (Marie) Agonglovi sowie Adam Khalifi für ihre Bereitschaft zu diesen Interviews und das Teilen privater Fotos und Erinnerungen.