Am 1. Juli 2009 wird Marwa El-Sherbini im Landgericht Dresden ermordet.
Marwa El-Sherbini war am 1. Juli 2009 als Zeugin in einem Berufungsverfahren wegen Beleidigung ins Landgericht Dresden gekommen. Der Angeklagte hatte sie und ihr Kind ein Jahr zuvor auf einem Spielplatz in Dresden rassistisch beleidigt, und sie hatte daraufhin Strafantrag gegen ihn gestellt. Im Gerichtssaal zieht er ein Kampfmesser und sticht sechzehn Mal auf die 31-jährige Frau und ihren Ehemann ein. Marwa El-Sherbini stirbt noch im Gerichtssaal vor den Augen ihres dreijährigen Sohnes und ihres Ehemannes.
Im Prozess gegen ihren Mörder wird die Staatsanwaltschaft erstmals antimuslimischen Rassismus als zentrales Tatmotiv benennen. Der 1. Juli ist, in Gedenken an Marwa El-Sherbini, seit 2015 Tag gegen antimuslimischen Rassismus in Deutschland.
Muslimische Frauen erfahren alltäglich rassistische Beleidigungen, Diskriminierung und Ablehnung. Wenn sie ein Kopftuch tragen, sind sie häufiger von antimuslimisch motivierten Übergriffen betroffen als Männer.
„Am Ende kommt immer die Frage: Wann gehst du zurück?“
Negla Osman, Nahla Medhat, Youmna Fouad und In Am Sayad Mahmood über alltägliche Anfeindungen und Übergriffe, September 2020 in Dresden, Drehort: Johannstädter Kulturtreff
Marwa El-Sherbini
Marwa El-Sherbini wird am 7. Oktober 1977 in der ägyptischen Mittelmeerstadt Alexandria geboren. Ihre Eltern sind Chemiker*innen.
Sie besucht von 1982 bis 1995 das El Nasr Girls’ College in Alexandria. Sie ist eine ausgezeichnete Schülerin, engagiert sich als Schulsprecherin und wird von ihren Mitschülerinnen als charismatisches Mädchen beschrieben, das sich gerne für andere Menschen einsetzt. Sie ist sportlich und beginnt in ihrer Collegezeit Handball zu spielen. In einem der größten Sportclubs in Alexandria trainiert sie regelmäßig und wird schließlich in die ägyptische Handballnationalmannschaft der Frauen aufgenommen. Sie reist zu internationalen Wettkämpfen und nimmt mit ihrem Team an den Arabischen Handballmeisterschaften teil.
Marwa El-Sherbini (obere Reihe, erste v. l.), © Youmna Fouad
Umzug nach Deutschland
Nach ihrem Schulabschluss studiert Marwa El-Sherbini Pharmazie an der Universität von Alexandria und arbeitet anschließend als Apothekerin. 2003 heiratet sie Elwy O., einen jungen Pharmazeuten und angehenden Genforscher. Sie planen einen Umzug nach Bremen, wo Elwy O. sein Masterstudium an der dortigen Universität beginnen wird. Er zieht im Herbst 2003 nach Deutschland, und Marwa El-Sherbini folgt ihm wenige Monate später. In Bremen lernt sie Deutsch und unterrichtet gleichzeitig Arabisch.
Leben in Dresden
Elwy O. promoviert anschließend am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden. Deshalb zieht das Paar im Herbst 2005 in eine Wohnung in der Elisenstraße im Dresdner Stadtteil Johannstadt, ganz in die Nähe des Instituts. Anfang des Jahres 2006 wird ihr Sohn geboren.
Im Herbst 2008 nimmt Marwa El-Sherbini ihr eigenes Berufsleben wieder auf. Für ihre Zulassung als Apothekerin in Deutschland muss sie zwei Praktika absolvieren. Sie sucht lange nach diesen Praktikumsplätzen und erlebt, dass das Tragen des Kopftuchs offen als Ablehnungsgrund genannt wird. Im Herbst 2008 beginnt sie schließlich ihr erstes Praktikum in der Apotheke des Universitätsklinikums. Für das zweite Pharmaziepraktikum arbeitet sie ab Frühjahr 2009 in der Apotheke am Sachsenbad in Dresden-Pieschen.
Am frühen Abend des 21. August 2008 besucht Marwa El-Sherbini mit ihrem zweijährigen Sohn einen Spielplatz in der Hopfgartenstraße in Dresden-Johannstadt. Die beiden Schaukeln dort sind besetzt von einem jungen Mann und einem Mädchen. Nach einer Weile bittet Marwa El-Sherbini den Mann, eine Schaukel für ihr Kind freizugeben.
Der Mann wird sofort laut und aggressiv. Er verlangt, dass Marwa El-Sherbini und ihr Sohn den öffentlichen Spielplatz verlassen. Sie sei eine Islamistin und habe in Deutschland nichts verloren. Er beleidigt sie als „Schlampe“ und „Terroristin“. Auch ihr Sohn würde später einmal ein Terrorist werden.
Spielplatz in der Hopfgartenstraße 18 in Dresden, Herbst 2020, © Katharina Wüstefeld
Marwa El-Sherbini lässt sich nicht einschüchtern. Sie besteht darauf, dass ihr Kind auf dem Spielplatz schaukeln darf. Daraufhin droht der Angreifer, wenn ihr Sohn auf der Schaukel sitze, werde er ihn totschaukeln.
Dann greifen weitere Eltern auf dem Spielplatz ein und bieten Marwa El-Sherbini ihre Hilfe an. Sie bittet um ein Handy. Ein Vater unterstützt sie und ruft schließlich die Polizei. Der Täter beschimpft auch diesen Mann, wie er als „Deutscher“ diese Frau in Schutz nehmen könne. Er sagt, das seien doch keine Menschen, man solle den Muslim*innen verbieten, überhaupt Kinder zu bekommen, schließlich würden sie doch nur Terroristen werden und alle in die Luft sprengen.
Als die Beamt*innen kommen, versucht der Täter auch sie von seiner rassistischen und menschenverachtenden Einstellung zu überzeugen und behauptet, Marwa El-Sherbini habe den Streit angefangen.
Der Täter kommt Marwa El-Sherbini dabei immer wieder bedrohlich nahe, so dass die Beamt*innen mehrmals dazwischengehen müssen. Schließlich nehmen ihn zwei Beamte mit zum Streifenwagen, und zwei weitere Beamt*innen befragen Marwa El-Sherbini und die anderen Zeug*innen. Marwa El-Sherbini stellt Strafantrag wegen Beleidigung.
Das Ausmaß antimuslimisch motivierter Beleidigungen und Gewalttaten ist schlecht dokumentiert. Antworten auf parlamentarische Anfragen lassen erahnen, wie weit verbreitet insbesondere Diskriminierungen sind: 719 Personen hatten sich bis Juni 2017 bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes aufgrund von antimuslimischer Diskriminierung beschwert. 76 Prozent der verbalen und körperlichen Gewaltdiskriminierungen im Bereich Öffentlichkeit und Freizeit sind gegen Frauen gerichtet, die ein Kopftuch tragen.
Alltägliche Beleidigung und Bedrohung
Muslimas erleben rassistische Diskriminierungen auf der Straße oder in der Öffentlichkeit – ob in Dresden oder andernorts. Nicht immer ist es möglich, sich dagegen zu wehren. In Beratungsstellen berichten betroffene Frauen, dass sie versuchen, bedrohliche Situationen zu vermeiden oder schnell zu verlassen. Einige erleben auch, dass ihnen die Umstehenden keine Hilfe sind. Die wenigsten fühlen sich sicher genug, um zu widersprechen. Die Täter*innen rechnen in der Regel nicht mit Gegenwehr.
„Sie sind sehr überrascht, wenn ich auf Beleidigungen reagiere und mich wehre.“
Nahla Medhat, Negla Osman, Olga Sperling und Youmna Fouad über Widerspruch und Gegenwehr, September 2020 in Dresden, Drehort: Johannstädter Kulturtreff
Marwa El-Sherbinis Strafantrag und die juristischen Folgen
Am 16. September 2008 vernimmt das Dezernat Staatsschutz der Polizeidirektion Dresden den Angreifer. Er äußert sich massiv rassistisch, bezeichnet alle als muslimisch gelesenen Personen als Islamist*innen und behauptet vehement, dass Menschen „nicht deutscher Abstammung“ in Deutschland nichts zu suchen hätten.
Er ist bekennender NPD-Wähler. Die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) zog bei den Kommunalwahlen im Juni 2008 mit einem sachsenweiten Durchschnitt von 5,1 % der Stimmen mit insgesamt 44 Mandaten in alle zehn gewählten Kreistage ein und war zu diesem Zeitpunkt mit 9,2 % im Landtag vertreten.
Strafbefehl
Das Amtsgericht Dresden verhängt am 10. Oktober 2008 einen Strafbefehl in Höhe von 30 Tagessätzen à 11 Euro gegen den Täter. Am 28. Oktober 2008 geht sein Einspruchsschreiben gegen diesen Strafbefehl beim Amtsgericht ein.
Das LKA Sachsen vermerkt dazu in den späteren Mordermittlungen: „Aus diesem Widerspruch wird die Einstellung des Herrn (…) deutlich, er äußert sein Unverständnis über die Verfahrensweise und ,… fühlt sich von der deutschen Justiz schikaniert und ungerecht behandelt.‘ In dem Widerspruch gibt er an, dass er ,… eher sterben werde, als für meine Bestrafung noch zu zahlen.‘ Im Ergebnis seiner schriftlichen Äußerung wird seine Abneigung – teilweise kann es als Hass bezeichnet werden – mehr als offenbar.“
In Folge des Einspruchs setzt das Amtsgericht Dresden eine Hauptverhandlung für den 13. November 2008 an. In dieser Verhandlung kommt es zur zweiten Begegnung zwischen dem Täter und Marwa El-Sherbini. Sie sagt als einzige Zeugin aus. Ihr Mann begleitet sie. Der Angeklagte beleidigt sie erneut mit seiner einzigen Frage: was sie in Deutschland eigentlich wolle. Die Frage wird durch die Richterin nicht zugelassen. Der Angeklagte kündigt an, seine Strafe nicht zu zahlen. Er wird wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 780 Euro in 60 Tagessätzen und zur Übernahme der Verfahrenskosten verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Strafe von 1.200 Euro beantragt.
„Er hat aber nachdrücklich darauf hingewiesen, dass nach seiner Auffassung gar keine beleidigungsfähigen Personen ihm gegen(über)gestanden seien, da das keine Bürger und Menschen seien.
(…) Zu seinen Lasten spricht (…), dass er seine rechtsfeindliche und menschenverachtende Gesinnung weiterhin ohne jede Einsicht oder Reue vor sich herträgt. Auch die Dauer der Beschimpfungen, die selbst bei Einschreiten Dritter kein Ende finden wollte(n), war straf(ver)schärfend zu werten.“
Landgericht Dresden, Eingang zum ehemaligen Saal 0.10, 2012 umbenannt in Saal A 1.48, Herbst 2020, © Katharina Wüstefeld
Fehlender Schutz
Laut Zeugenaussagen bereitete dem Ehepaar ein Zusammentreffen mit dem Täter Sorgen. Außerdem fanden sie es beklemmend, dass ihm ihre persönlichen Daten in der Verhandlung zur Kenntnis gegeben wurden und es keine räumliche Trennung und damit keinen Schutz gab.
Berufung
Einen Tag nach der Hauptverhandlung erscheint der Verurteilte persönlich in der Geschäftsstelle des Amtsgerichts und legt Berufung ein. Auch die Staatsanwaltschaft geht aufgrund seiner Uneinsichtigkeit und seiner rassistischen Überzeugungen in Berufung, mit dem Ziel, eine Freiheitsstrafe zu verhängen.
Der Täter erstreitet sich die Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Die Berufungsverhandlung vor dem Landgericht wird für den 1. Juli 2009, 09:30 Uhr, angesetzt.
Graffiti der Gruppe Dresden Postkolonial im Dresdner Koordinierungskreis für das Gedenken an Marwa El-Sherbini, Dresden-Neustadt, Sommer 2020, © Dresden Postkolonial
Der Mord
Die Berufungsverhandlung vor der 12. Kleinen Strafkammer des Landgerichts Dresden beginnt am 1. Juli 2009, 09:30 Uhr im Saal 0.10. Anwesend sind der Angeklagte, sein Pflichtverteidiger, die Staatsanwältin, der Vorsitzende Richter, zwei Schöff*innen sowie eine Urkundsbeamtin.
Der Angeklagte trägt in seinem Rucksack unbemerkt ein Kampfmesser ins Gerichtsgebäude. Es ist 31 Zentimeter lang und hat eine 18 Zentimeter lange Klinge. Sein Pflichtverteidiger hat ihm bereits den rechten Sitzplatz in der Verteidigerbank vorn am Richtertisch zugeteilt. Doch der Angeklagte setzt sich stattdessen näher an die Tür, auf den zweiten Platz, auf dem bereits die Unterlagen des Pflichtverteidigers liegen. Die Saaltür ist dadurch links hinter seinem Rücken in seiner unmittelbaren Nähe.
Marwa El-Sherbini ist als einzige Zeugin für 09:50 Uhr geladen. Elwy O. begleitet seine Ehefrau. Ihr inzwischen dreijähriger Sohn ist an diesem Tag krank, weshalb sie ihn ins Landgericht mitnehmen müssen. Anhand der Tagesordnung vor dem Verhandlungsraum versuchen sie in Erfahrung zu bringen, ob sie für dieselbe Zeit wie der Angeklagte geladen sind und sie ihm wie vor dem Amtsgericht wieder begegnen müssen.
Die Berufungsverhandlung
Der Angeklagte wiederholt vor Gericht sein rassistisches Gedankengut und erklärt, er habe die NPD gewählt. Daraufhin weist der Vorsitzende Richter ihn auf die nationalsozialistischen Verbrechen hin und betont im weiteren Gesprächsverlauf, dass die Leugnung des Holocaust strafbar ist. Der Vorsitzende stellt dem Angeklagten eine höhere Geldstrafe als am Amtsgericht in Aussicht.
Gegen 10:05 Uhr wird Marwa El-Sherbini über Lautsprecher in den Verhandlungsraum gerufen. Sie läuft um die Verteidigerbank herum zu dem kleinen Zeugentisch in der Mitte des Raumes. Ihr Ehemann setzt sich mit dem Sohn auf die Zuschauerstühle an der hinteren Wand.
Marwa El-Sherbini macht die gleichen Angaben wie bereits vor dem Amtsgericht. Anschließend stellt der Angeklagte wieder dieselbe Frage wie in der Ersten Instanz: was sie in Deutschland wolle, warum sie hier sei. Auch diesmal wird die Frage nicht zugelassen. Er besteht mehrmals auf einer Antwort und diskutiert darüber mit seinem Verteidiger. Gegen 10:20 Uhr wird Marwa El-Sherbini als Zeugin entlassen. Sie verzichtet auf die Erstattung von Auslagen und erhält auf ihren Wunsch hin am Richtertisch noch eine Telefonnummer, unter der sie sich im Anschluss über das Urteil informieren kann. Danach geht sie in dem engen Raum zwischen Verteidigerbank und Wand zur Tür. Elwy O. folgt ihr mit dem Kind an der Hand.
Landgericht Dresden, Saal 0.10 (heute umbenannt in Saal A 1.48), Foto: Jasper Kettner
Tödlicher Angriff
Kurz bevor Marwa El-Sherbini die Saaltür erreicht, springt der Angeklagte auf, drückt sie gegen die geschlossene Saaltür und stößt den erhobenem Arm mit voller Wucht auf ihren Oberkörper. Elwy O. lässt das Kind an seiner Hand los und drängt sich schützend vor seine Ehefrau. Nun treffen die Schläge ihn. Er nimmt einen Gegenstand wahr und begreift erst anhand seiner Schmerzen, dass es sich um ein großes Messer handelt. Er fällt verletzt zu Boden. Der Täter beugt sich erneut über Marwa El-Sherbini und sticht in schneller Abfolge und schweigend weiter auf sie ein.
Elwy O. kann sich aufrichten und versucht noch einmal verzweifelt, den Angreifer von seiner zu Boden gestürzten Frau wegzuziehen. Dieser erhebt sich und sticht Elwy O. in Hals, Gesicht und Oberkörper. In diesem Chaos öffnet sich die Saaltür und Elwy O. fällt, bereits schwerverletzt, hinaus auf den Gerichtsflur. Während Marwa El-Sherbini mit ihrem Kind in die Nähe der Zuschauerstühle zurückweicht und versucht, ihren Sohn zu schützen, sticht der Täter auf ihren Rücken ein, bis sie sich nicht mehr bewegt. Die Versuche der Prozessbeteiligten, ihn durch Anschreien, das Werfen von Stühlen und Verrücken von Tischen aufzuhalten, bleiben erfolglos.
Als Elwy O. wieder in den Saal zurückkommt, stürzt sich der Täter wieder auf ihn. Elwy O. bekommt das erhobene Messer an der Klinge zu fassen und versucht, es dem Angreifer zu entwinden. Bundespolizist*innen in Zivil, die in der Nähe auf ihre Zeugenaussage in einem Nachbarsaal warten, rufen ihren bewaffneten Kollegen aus diesem Saal herbei. Als dieser in der Tür von Saal 0.10 erscheint, sieht er Elwy O. und den Mörder um das Messer ringen. Er zielt und ruft „Lass das Messer fallen!“. Elwy O. vernimmt das Rufen nicht, beide Männer ringen weiter. Ein Schuss fällt. Er durchschlägt Elwy O.s Oberschenkel. Bevor er zu Boden fällt, nimmt er wahr, wie seine Frau in einer Ecke des Raumes liegt, der Sohn neben ihr.
Die 10:30 Uhr eintreffenden Rettungskräfte versuchen vergeblich, Marwa El-Sherbini zu reanimieren. Sie wird 11:07 Uhr, noch im Gerichtssaal, für tot erklärt.
Die Überlebenden
Elwy O. wird ebenfalls mehrfach reanimiert, mit einem Hubschrauber ins Universitätsklinikum Dresden geflogen und in ein künstliches Koma versetzt. Er wird dort auf der Intensivstation behandelt und mehrmals operiert. Seine Stichverletzungen ähneln denen seiner Frau in Anzahl und Schwere. Er erwacht am 3.Juli 2009. Ein langwieriger Genesungsweg beginnt.
Marwas und Elwys dreijähriger Sohn, der die ganze Zeit über bei seiner Mutter gewesen, alles mit angesehen, geweint und geschrien hatte, wird nach dem Mord von den Anwesenden aus dem Verhandlungsraum gebracht. Er wird nach einer kurzen Behandlung im Universitätsklinikum Dresden durch das Jugendamt in Obhut genommen. Der Kinder- und Jugendnotdienst kümmert sich um seine Unterbringung, bis seine Tante aus Kairo nach Dresden kommen und sich um ihn kümmern kann.
Angst vor antimuslimischem Hass
Der Mord an Marwa El-Sherbini hat das Leben muslimischer Frauen in Dresden nachhaltig verändert. Manche Frauen werden nach dem Mord selbst bedroht. Viele leben in den folgenden Wochen und Monaten in großer Angst. Ihr Vertrauen in den Schutz durch Justiz und Polizei ist massiv erschüttert.
„Leg dein Kopftuch ab, sonst passiert dir das Gleiche wie Marwa.“
In Am Sayad Mahmood, Negla Osman und Andrea Hübler über die Reaktionen muslimischer Frauen auf den Mord an Marwa El-Sherbini, September 2020 in Dresden, Drehort: Johannstädter Kulturtreff
Reaktionen auf den Mord
Die öffentlichen Reaktionen auf den Mord an Marwa El-Sherbini fallen verhalten aus. Zunächst äußern sich weder Vertreter*innen aus der Politik noch aus der Zivilgesellschaft öffentlich dazu. Es gibt keine antifaschistischen Mahnwachen oder Demonstrationen. Die Medienberichterstattung betont die russlanddeutsche Herkunft des Täters, die Süddeutsche Zeitung schreibt sogar von einem „Kampf fremder Kulturen“ auf deutschem Boden.
In Ägypten findet der Mord an Marwa El-Sherbini sehr große Beachtung. Ihre Beisetzung am 6. Juli 2009 in einem Ehrengrab in Alexandria wird von tausenden Menschen begleitet. Sie wird zu einer Märtyrerin stilisiert, die ihr Kopftuch mit dem Leben verteidigt habe.
Am Tag der Beisetzung besuchen Stephan Kramer, der damalige Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, und Aiman Mazyek, der Generalsekretär des Zentralrats der Muslime in Deutschland, den Ehemann von Marwa El-Sherbini im Krankenhaus. Dieser gemeinsame Besuch löst ein starkes Medienecho aus. Die Zeitungen schreiben von einem vermeintlichen „Bündnis der Minderheiten“. Stephan Kramer reagiert auf diese Berichte mit einer deutlichen Klarstellung.
„Ich bin nicht nach Dresden gefahren, weil ich als Jude Angehöriger einer Minderheit bin. Ich unternahm die Reise, weil ich als Jude weiß: Wer einen Menschen wegen dessen Rassen-, Volks- oder Religionszugehörigkeit angreift, greift nicht nur die Minderheit, sondern die demokratische Gesellschaft als Ganzes an. Deshalb ist nicht die Frage relevant, warum ein Vertreter der jüdischen Gemeinschaft (…) seine Trauer und Solidarität bekundete, sondern die, warum es nicht auch einen massiven Besucherstrom oder Solidaritätsadressen von Vertretern der deutschen Mehrheitsgesellschaft gab?“
Erst am 10. Juli 2009 meldet sich die damalige Oberbürgermeisterin Helma Orosz (CDU) für die Stadt Dresden zu Wort. Auf der vom Ausländerrat Dresden organisierten Trauerfeier am nächsten Tag erscheint sie jedoch nicht, auch der damalige Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) schließt sich den 1.500 Teilnehmenden nicht an. Am gleichen Tag verurteilt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Tat und kondoliert dem ägyptischen Staatspräsidenten Husni Mubarak. An die in Deutschland lebenden Muslim*innen wendet sie sich nicht.
Die Hetze des Thilo Sarrazin
Ende September 2009 veröffentlicht die Zeitschrift „Lettres International“ ein Interview mit dem ehemaligen Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD). Darin beschreibt er arabisch- und türkischsprachige Migrant*innen als nicht integrationsfähig und bildungsfern. Sie würden lediglich über eine hohe Geburtenbereitschaft „Deutschland erobern“. Sie bezögen Transferleistungen, lehnten den Staat ab und würden nicht für die Ausbildung ihrer Kinder sorgen, sondern „ständig neue kleine Kopftuchmädchen“ produzieren. Das gelte, so Sarrazin, „für 70 Prozent der türkischen und 90 Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin.“ Bevölkerungspolitisch würde die große „unproduktive Gruppe“ dieser Migrant*innen dazu beitragen, dass sich die Situation in Berlin und Deutschland durch eine „negative Auslese“ wirtschaftlich verschlechtere. Sarrazin behauptet auch, „dass 40 Prozent aller Geburten in der Unterschicht stattfinden“. Das damalige Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank schlägt eine Elitenförderung vor, die durch Ausgrenzungsverfahren Migrant*innen und sozialtransferbeziehenden Menschen die Transferleistungen streicht und sie sich selbst überlässt.
Das ist nicht witzig, Ahmet! Von Harm Bengen/toonpool.com, erschienen u. a. in der Hürriyet, 2010
Antimuslimischer Rassismus wird gesellschaftsfähig
Sarrazins ideologische Polemik in dem Interview macht deutlich, wie eng rassistische, sozial-chauvinistische und misogyne Ideologien verbunden sind. Sie zielen am stärksten gegen Muslimas und gegen Kinder muslimischer Eltern. Seine bevölkerungspolitischen Überlegungen zum nationalen Wirtschaftsstandort Deutschland, den er angesichts einer wachsenden von institutioneller Bildung fernen sozialen Gruppe und zunehmender Migration aus mehrheitlich islamischen Herkunftsländern bedroht sieht, setzt er in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ (2010) weiter fort. Dieses Buch löst breite Debatten aus und wird zum Bestseller. Sarrazin erhält Zustimmung aus konservativen und rechtsextremen Kreisen dafür, ein vermeintliches Tabu gebrochen und „Migration endlich als Problem“ thematisiert zu haben. Die Türkische Gemeinde in Deutschland und der Zentralrat der Juden in Deutschland sprechen auf einer gemeinsamen Pressekonferenz von stigmatisierenden, menschenverachtenden und volksverhetzenden Äußerungen Sarrazins.
In dieser gesellschaftlichen Atmosphäre beginnt am 26. Oktober 2009 der Prozess gegen den Mörder von Marwa El-Sherbini.
Der Prozess gegen den Mörder
Die Anklage lautet auf Mord an Marwa El-Sherbini in Tateinheit mit versuchtem Mord und gefährlicher Körperverletzung gegen ihren Ehemann Elwy O. Nebenkläger*innen sind der Ehemann von Marwa El-Sherbini sowie ihr Bruder, ihr Vater und ihre Mutter.
Höchste Sicherheitsvorkehrungen
Der Prozess findet unter allerhöchsten Sicherheitsvorkehrungen statt. Ein Mordaufruf gegen den Mörder von Marwa El-Sherbini im Internet führt dazu, dass das Landgericht an den Verhandlungstagen für andere Verhandlungen geschlossen ist. Zweihundert Polizist*innen sind im Einsatz. Prozessbeteiligte, Zuschauer*innen und Journalist*innen passieren nach Betreten des Gebäudes eine Sicherheitsschleuse und werden mit Metalldetektoren durchsucht. Der Angeklagte wird jeden Tag in einem gepanzerten Wagen zum Gerichtsgebäude gebracht und von maskierten Polizisten eskortiert. Eine 2,5 Meter hohe Panzerglasscheibe trennt Gericht und Zuschauerraum und soll die Prozessbeteiligten schützen. Vor dem Gerichtgebäude herrscht während aller Prozesstage Halteverbot.
Vorwürfe gegen Justiz und Polizei
Auf Antrag des Ehemannes leitet die Staatsanwaltschaft im Oktober 2009 gegen den damaligen Präsidenten des Landgerichts Dresden Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung ein. Es soll geprüft werden, ob er wegen mangelnder Sicherheitsvorkehrungen mitverantwortlich ist für den Tod von Marwa El-Sherbini.
Weitere Ermittlungsverfahren laufen gegen den Beamten der Bundespolizei, der den Schuss auf Elwy O. abgegeben hat, sowie gegen den Vorsitzenden Richter wegen fahrlässiger Tötung und unterlassener Hilfeleistung.
„Für uns war schnell klar: Das Tatmotiv war Rassismus.“
Andrea Hübler über ihre Prozessdokumentation für die RAA Sachsen, September 2020 in Dresden, Drehort: Johannstädter Kulturtreff
Das Urteil
Am 11. November 2009 verurteilt die Schwurgerichtskammer des Landgerichts Dresden den Angeklagten wegen Mordes an Marwa El-Sherbini, versuchten Mordes an Elwy O. und gefährlicher Körperverletzung gegen Elwy O. zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Die besondere Schwere der Schuld wird festgestellt. Eine vorzeitige Haftentlassung nach fünfzehn Jahren ist dadurch ausgeschlossen.
Die Tat wird als rassistisches Verbrechen anerkannt.
Das Ermittlungsverfahren gegen den Beamten der Bundespolizei wird kurz vor Weihnachten 2009 eingestellt. Er habe nicht erkennen können, welcher der beiden Männer der Angreifer gewesen sei und habe in einem tragischen Irrtum, aber ohne Schuld gehandelt. Deswegen könne ihm weder vorsätzliche noch fahrlässige Tötung vorgeworfen werden. Sein Eingreifen habe vielmehr das Ende des Angriffs herbeigeführt.
Auch die Ermittlungen gegen den Vorsitzenden Richter sowie gegen den Präsidenten des Landgerichts Dresden werden eingestellt. Für die Familie von Marwa El-Sherbini ist die Einstellung der Ermittlungen eine große Enttäuschung.
Pegida-Aufmarsch am 24. November 2014 in Dresden, Foto: Johannes Grunert
Pegida entsteht
Seit dem 20. Oktober 2014 demonstrieren in Dresden immer montags Anhänger*innen einer Bewegung, die sich „Patrioten Europas gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) nennt. Dabei versammeln sich zu Beginn der Demonstrationen bis zu 25.000 Menschen in der Innenstadt. Organisierte Neonazis, rechte Hooligans und Kampfsportler sind fester Bestandteil der Bewegung.
„Die ,Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes‘ (Pegida) haben das Fünftel der deutschen Bevölkerung sichtbar gemacht, das in unterschiedlichen Einstellungsstudien immer wieder durch rassistische, nationalistische oder andere demokratiefeindliche Positionen aufgefallen war. (…) Pegida wurde damit zum Symbol für einen neuen, selbstbewussten Chauvinismus und Nationalismus in der Bundesrepublik.“
Im Herbst 2019 laufen auch führende AfD-Funktionäre bei Pegida-Demonstrationen mit. Nach mehreren Spaltungen und internen Streits hat die Bewegung an Einfluss verloren. Die AfD ist nun die Sammlungsbewegung für Menschen mit nationalkonservativen, rassistischen und rechtsextremen Einstellungen.
Gegen den Hass, die Vorurteile und den Rassismus gegen Muslim*innen steht zuerst die Selbstorganisierung von Muslimas und Migrant*innen, aber auch die Solidarität vieler Menschen. Trotz alltäglicher Beleidigungen engagieren sich Muslimas in Dresden und gestalten das gesellschaftliche und politische Leben der Stadt mit.
„Mir ist es sehr wichtig, beruflich und gesellschaftlich wirksam zu sein.“
Nahla Medhat, Negla Osman und Youmna Fouad über ihr politisches und gesellschaftliches Engagement, September 2020 in Dresden, Drehort: Johannstädter Kulturtreff
Nach dem rassistischen Mord an Marwa El-Sherbini organisieren Olga Sperling und In Am Sayad Mahmood vom Ausländerrat Dresden einen offenen Treffpunkt für muslimische Frauen. Gesprächsrunden zur Aufarbeitung der Trauer über den Mord an Marwa El-Sherbini und ihre eigenen alltagsrassistischen Erfahrungen prägen die Arbeit der ersten Monate. Später öffnet sich der Kreis für alle Frauen mit unterschiedlicher Herkunft und Religion und wird zum Interkulturellen Frauentreff.
Dieser geschützte Raum ermöglicht es den Frauen, sich über Ängste vor Angriffen und über Diskriminierungserfahrungen auszutauschen, Freundinnen zu finden und sich zu stärken. Im Laufe der Jahre entstehen zahlreiche Diskussionsrunden, Schwimmkurse, Ausstellungen, Fahrradkurse für Frauen und ein kleines Café.
„Die Frauen stärken sich gegenseitig.“
Olga Sperling, In Am Sayad Mahmood und Negla Osman über den Interkulturellen Frauentreff Johannstadt, September 2020 in Dresden, Drehort: Johannstädter Kulturtreff
Das Gedenken an die Ermordung von Marwa El-Sherbini ist von Anfang an stark umkämpft. Ihr Tod wird aus sehr unterschiedliche Perspektiven und für unterschiedliche politische Zwecke thematisiert. Muslim*innen und Migrant*inneninitiativen betonen das rassistische und antimuslimische Motiv. Häufig wird Marwa El-Sherbini als eine moderne, selbstbewusste und weltgewandte Muslima beschrieben, die sich couragiert gegen Rassismus wehrte. Für die sächsische Regierung soll sie Modell stehen für die „willkommene Migrantin“, die ein perfektes Deutsch spricht, zu einer Akademikerfamilie gehört und sich in Gesellschaft und Rechtssystem gewandt und immer höflich bewegt. Fundamentalistische Strömungen laden den Fall religiös auf, verehren sie als Märtyrerin und unterstellen, sie sei für den Islam gestorben.
Das Justizministerium Sachsen gibt noch vor Ablauf des Jahres 2009 einen kurzfristigen Termin zur Einweihung einer Gedenktafel für Marwa El-Sherbini im Landgericht Dresden für Mitte Dezember 2009 bekannt. Der Termin ist allerdings weder mit der Familie von Marwa El-Sherbini noch mit ihrem Ehemann abgestimmt, der zu diesem Zeitpunkt in Ägypten weilt, um seinen Sohn wiederzusehen.
Kurz darauf werden die Ermittlungen zu allen Strafanträgen, die Elwy O. gestellt hat, eingestellt. Zu einem Auftritt von ihm bei einer Gedenkveranstaltung des Sächsischen Justizministeriums kommt es auch in den Folgejahren nicht mehr.
Mangels eines neuen gemeinsamen Termins hängt die Gedenktafel bis zum ersten Jahrestag des Mordes verhüllt im Foyer des Landgerichts und wird am Vormittag des 1. Juli 2010 eingeweiht. Am Nachmittag des gleichen Tages findet eine Kundgebung am Dresdner Rathaus statt, gefolgt von einer Demonstration zum Landgericht.
Ein Bündnis aus zivilgesellschaftlichen Initiativen, muslimischen Gemeinden, Migrant*inneninitiativen, dem Referat für ausländische Studierende, Vertreter*innen der Stadtverwaltung sowie der Dresdner Antifa haben die Veranstaltungen organisiert. Für diese Kundgebung wünschen sich die Organisator*innen einen Redebeitrag von Marwa El-Sherbinis Ehemann, der aber mittlerweile mit seinem Sohn von Deutschland Abstand genommen hat.
Der Dresdner Verein „Bürger.Courage“ trägt das Gedenken 2010 über mehrere Wochen mit einer Kunstaktion in das gesamte Stadtgebiet: Achtzehn Betonstelen in Form eines Messers thematisieren unter dem Titel „18 Stiche“ an verschiedenen Orten der Stadt Rassismus.
Mehrere dieser Stelen werden umgeworfen oder mit rechten Symbolen beschmiert. Auch Morddrohungen erreichen die Initiator*innen.
Schon im Jahr nach dem Mord bemühen sich Initiativen, Politiker*innen, Forscher*innen und Jurist*innen in Dresden um die Benennung einer Straße oder eines Platzes nach Marwa El-Sherbini.
Statt der Umbenennung eines Stücks der Florian-Geyer-Straße direkt neben dem Gerichtsgebäude entscheidet der Stadtrat im Jahr 2012, ein Stipendium einzurichten, das den Namen der Ermordeten trägt. Das Stipendium wird anteilig von der Landeshauptstadt Dresden und dem Freistaat Sachsen finanziert. Es sollen zukünftige Führungs- und Fachkräfte unterstützt werden, die gesellschaftliche Verantwortung übernehmen und sich für Freiheit, Demokratie und die Grund- und Menschenrechte engagieren. Stipendiatin von 2017 bis 2019 war Youmna Fouad.
Nach jahrelangen Auseinandersetzungen beschließt der Dresdner Stadtrat am 16. Juli 2020, den Park vor dem Dresdner Landgericht „Marwa-El-Sherbini-Park“ zu nennen.
Ein Kreis aus zivilgesellschaftlichen Initiativen und einzelnen Akteur*innen der Dresdner Stadtverwaltung, die in Dresden jedes Jahr das Gedenken an Marwa El-Sherbini organisieren, engagiert sich aktuell für die Gestaltung eines Gedenkortes in diesem Park.
Graffiti in Gedenken an die Ermordung von Marwa El-Sherbini, verwirklicht durch den Dresdner Koordinierungskreis Gedenken und die Gruppe Dresden Postkolonial im Sommer 2020