Gegen uns.

Rassismus, rechte Gewalt und Migrantifa in Erfurt

Rashid Jadla aka Sonne Ra:

„ich bin deutsch / aber mein ganzes leben lang / von deutschen verfolgt“

Rashid Jadla wird 1978 als Sohn eines algerischen Vertragsarbeiters und einer deutschen DDR-Bürgerin in Erfurt geboren. Er erlebt schon als Kind Ausgrenzung und Rassismus im Alltag und in der Schule. Nach dem Fall der Mauer entlädt sich Rassismus in offenen Auftritten und Angriffen von Neonazis in Erfurt. Rashid beginnt sich zu wehren und organisiert sich mit anderen von Rassismus Betroffenen. Von ihnen ermutigt, findet er die Kraft, sich aus der Spirale der Angst zu befreien. Er entdeckt Hip-Hop und beginnt, selbst Musik zu machen. Unter dem Künstlernamen Sonne Ra verarbeitet er auch seine Erfahrungen mit rassistischen Kontinuitäten von den siebziger Jahren bis heute. Seine Geschichte erzählt von Rassismus, aber auch von Gegenwehr und der Kraft migrantischer Selbstorganisation.

„Ich werde einen Schritt weitergehen.“

Sonne Ra „Noch ein Schritt weiter“, 2012, nach einem Gedicht von May Ayim

 Rashid Jadla spricht über sich, seine Kindheit und über den Weg zur Musik.

Algerier in Erfurt

1975 kommen 300 junge Männer aus Algerien nach Erfurt. Darunter ist auch Rashids Vater. Ein Jahr zuvor hatte die DDR ein Abkommen mit Algerien abgeschlossen, in dem der Einsatz algerischer Arbeiter in DDR-Betrieben vereinbart wurde. Rashids Vater wird gemeinsam mit vielen anderen Algeriern auf den Baustellen für die neuen Plattenbausiedlungen eingesetzt.

Berliner Platz 1980, Foto: Stadtarchiv Erfurt, Andreas Rieth 004

Lügen und Gerüchte

Schon kurze Zeit nach der Ankunft der Algerier kursieren zahlreiche Gerüchte in der Bevölkerung. Sie seien kriminell und belästigten deutsche Frauen. Die Presse würde die Vorfälle verschweigen. „Kameltreiber passen einfach nicht nach Erfurt“, ist eine weit verbreitete rassistische Äußerung. Es kommt immer wieder zu Beleidigungen, Streitigkeiten und Prügeleien zwischen deutschen und algerischen Männern.

Anfang August 1975 behauptet ein deutscher Kraftfahrer in einer Erfurter Kneipe, mehrere Algerier hätten eine deutsche Frau vergewaltigt. Er könne das bezeugen. Das Gerücht macht die Runde in der Stadt. Später gibt der Kraftfahrer bei einer Polizeibefragung zu, bewusst eine Falschmeldung gegen Algerier gestreut zu haben.

Schlägerei auf dem Volksfest

„Am 10. August 1975 eskalierte die Situation. Ein Algerier hatte auf dem Rummel am Domplatz eine Deutsche offenbar zunächst unsittlich berührt, um sie dann gegen ihren Willen zu küssen. Einige Jugendliche sahen das und verprügelten den Algerier und brachen ihm das Nasenbein. Dann schlugen sie auf einen weiteren Algerier ein. Daraufhin flohen die ungefähr 25 auf dem Domplatz befindlichen Algerier.“ (Erices, 2018)
Anschließend jagen etwa 300 Jugendliche die  Vertragsarbeiter durch die Innenstadt und bewerfen sie mit Steinen und Gegenständen. Ein Schäferhund wird auf die sie gehetzt.

„In aufgebrachter, pogromhafter Stimmung
folgten ihnen zuerst etwa 150, später
nahezu 300 Jugendliche.“

BStU, MfS, ZAIG, 30554, Bl. 1-137. Bericht des Leiters Hauptabteilung VII vom 9.9.1975 an die ZAIG [Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe]

Die Pogromstimmung bleibt

Zwei Tage später, am 12. August 1975, schlagen 50 bis 60 deutsche Jugendliche wieder in der Innenstadt auf eine Gruppe von Algeriern ein, die nach der Arbeit auf dem Rückweg ins Wohnheim sind. Als die Männer aus Angst um ihr Leben fliehen, schreitet die Volkspolizei ein und bringt sie in das Gebäude der Hauptpost. Auf dem Platz vor der Post, dem Anger, versammeln sich 300 Personen und schreien „Gebt die Algerier raus!“, „Totschlagen!“ und „Aufhängen!“. Am nächsten Tag, dem 13. August 1975, versammeln sich mit Stöcken bewaffnete Erfurter vor dem Wohnheim der Vertragsarbeiter*innen in der Nordhäuser Straße. Die Volkspolizei nimmt 57 deutsche Personen fest. Noch im Sommer kommt es zu einem Prozess, es werden Haft- und Ordnungsstrafen verhängt.

Ob die rassistischen Ausschreitungen spontan entstanden oder zu einem gewissen Grad organisiert worden waren, bleibt unklar.

In Dokumenten der Staatssicherheit werden diverse Gerüchte zitiert, die in breiten Teilen der Bevölkerung Verbreitung gefunden hatten.

Fake News

Ein Stasidokument benennt die „hauptsächlichsten
Gerüchte“, die im August 1975 zu der pogromartigen Stimmung gegen die algerischen Arbeiter in Erfurt geführt hatten.

Quelle: BStU, MfS, ZAIG, 30554, Bl. 112

Rassismus wird nicht beim Namen genannt

Diese Nachforschungen der Stasi führen nicht dazu, Rassismus als gesellschaftliches Problem öffentlich zu benennen. Stattdessen wird „Aufklärungsmaterial“ in den Betrieben verteilt, das als „Argumentationshilfe“ dienen soll. Darin wird den algerischen Arbeitern eine „rückständige“ Lebensweise und Unkenntnis europäischer Kulturnormen unterstellt. Die vermeintlich überlegenen DDR-Bürger*innen sollen ihnen mit Verständnis begegnen. Rassistische Klischees und Vorurteile werden damit verfestigt.
Anbei ein Auszug aus einer dreiseitigen Liste „zu einigen Besonderheiten und Lebensgewohnheiten der algerischen Freunde“, die „einer schriftlichen Argumentation zum Einsatz von Werktätigen aus der Demokratischen Volksrepublik Algerien im VE Bau- und Reparaturkombinat Erfurt“ entstammen.

Quelle: BStU, MfS, ZAIG, 30554, Bl. 33

„Ich dachte, wir kommen in die Moderne, aber das Gegenteil war der Fall. Das Bild, das ich von Europa hatte, entpuppte sich als Illusion.“

José Paca, Mai 2020 in Erfurt

Foto: Stadtarchiv Erfurt, Andreas Rieth 010

Aus dem befreiten Angola in die DDR

Es kommen aus anderen Ländern nicht nur Arbeiter*innen nach Erfurt. Einige sozialistische Staaten schicken junge Menschen zum Studium oder zu einer beruflichen Qualifizierung in die DDR.

Angola entsendet Studierende und auch Verwaltungspersonal zur Ausbildung nach Deutschland. Die angolanische Regierung kommt für die Lebenshaltungskosten der Stipendiat*innen auf und übernimmt auch die Studiengebühren. Für die DDR ist dies eine interessante Einnahmequelle für begehrte Devisen.

Eine Ausbildung in der Verwaltung

José Paca war in Angola Regierungsbeamter gewesen und kommt Ende der achtziger Jahre zur Fortbildung in die DDR. Obwohl er schon lange nicht mehr in der Ausbildung ist und in Angola offizielle Ämter bekleidet hatte, wird er mit den ausländischen Studenten im Wohnheim untergebracht und sein Alltag streng reglementiert. Im multiethnischen Angola herrscht seit der Befreiung aus der Kolonialzeit Aufbruchstimmung. Die jungen Menschen kommen selbstbewusst nach Europa, das sie sich modern und frei vorgestellt hatten.

Stattdessen erleben sie häufig Rassismus und Ausgrenzung.

„Die haben Brüderlichkeit gesagt, aber nahmen von uns Abstand.“

José Paca, Mai 2020 in Erfurt

José Paca über die Rassismuserfahrungen angolanischer Stipendiat*innen in der DDR

Eine Kindheit in Erfurt

Aus dem Familienalbum

Helga Schmidt und Mebarak Jadla lernen sich 1976 kennen. Zwei Jahre später kommt Rashid zur Welt. Er kann seinen Vater nie richtig kennenlernen. Nur wenige Monate nach Rashids Geburt stirbt er in einem Verkehrsunfall. Rashid wächst in einer weißen Umgebung auf, in der die rassistischen Stigmatisierungen alltäglich präsent sind. Die Zuschreibung gegenüber nordafrikanischen Männern als vermeintliche „Vergewaltiger deutscher Frauen“ wird von der Mehrheit der Erwachsenen geteilt – auch von Erzieher*innen und Lehrer*innen im Kindergarten und in der Schule. Rashid bekommt die Ablehnung von Anfang an zu spüren.

  • Rashids Eltern: Helga Schmidt und Mebarak Jadla (rechts)

  • 1978

  • Im Kindergarten 1982

Fotos: Rashid Jadla

„In der Pause, auf dem Schulhof habe ich mich immer versteckt.“

Rashid Jadla, Mai 2020 in Erfurt

Rashid Jadla über den ungebremsten Rassismus von Mitschüler*innen und Lehrer*innen in der Schule

Die Schule ist kein sicherer Ort

Als Rashid acht Jahre alt ist, zieht er mit seiner Mutter in die Plattenbausiedlung, auf deren Baustellen sein Vater gearbeitet hatte. Andere Kinder mit migrantischen Elternteilen gibt es in der Nachbarschaft nicht. Ununterbrochen und unwidersprochen wird ihm sein „Anderssein“ vorgehalten. Der Schulbesuch entwickelt sich schon in den ersten Schuljahren zum täglichen Spießrutenlauf.

„Ich bedaure zutiefst, dass ich nicht ordentlich in die Schule gehen konnte.“

Rashid Jadla, Mai 2020 in Erfurt

Erinnerungen an den Schulhof sind für Rashid fast immer mit Gewalt und Angst verbunden. Er beschreibt die Gefühle, mit denen er als Kind jeden Tag konfrontiert war. Foto: Jasper Kettner

Eine neue Identität

Die rassistischen Attacken gegen den jugendlichen Rashid werden immer gewalttätiger. Es gibt keine Erwachsenen, die sich einmischen, und keine Freund*innen, die sich solidarisieren. Als sich Rashid immer mehr zurückzieht, sieht seine Familie keinen anderen Ausweg: Um ihn aus dem „Schussfeld“ zu nehmen, bekommt er einen neuen deutschen Namen. Auf diese Weise, so hoffen die Angehörigen, bliebe seine Identität unerkannt. Als „Steffen“ wechselt er im Alter von vierzehn Jahren auf eine Schule in einem anderen Stadtteil von Erfurt.

„Rassismus wurde komplett tabuisiert.“

Rashid Jadla, Mai 2020 in Erfurt

Rashid Jadla erzählt, wie er einen neuen Namen bekommen hat, um den rassistischen Angriffen zu entgehen.

Neonazis in Thüringen

In der DDR treten ab Ende der siebziger Jahre vermehrt Jugendliche als Skinheads in Erscheinung. Sie orientieren sich an extrem rechten Naziskins in Westdeutschland. In den achtziger Jahren beginnen sich junge Naziskins auch in der DDR informell in Cliquen zu politisieren und zu vernetzen. Auch in Thüringen entwickeln sich größere Neonazigruppen, die zunehmend das Alltagsleben unter Jugendlichen dominieren. Im Oktober 1988 zählt die Stasi offiziell 103 Skinheads in den drei Thüringer Bezirken, die Dunkelziffer ist jedoch weitaus höher. (Quent, 2005)

Nach der Maueröffnung kommen zahlreiche organisierte Neonazis aus Westdeutschland in die neuen Bundesländer. Mit ihrer Unterstützung steigt die Zahl der organisierten Rechtsextremen schnell weiter an.

„1990 gab es auf dem DDR-Gebiet mindestens 1.500 Neonazis und mehrere Zehntausend Sympathisant*innen. Ein Teil kam aus West-Berlin in die DDR. Zu ihrem strafbaren Repertoire gehörten vor allem schwere Körperverletzung, Sachbeschädigung und die Verherrlichung nationalsozialistischer Symbole.“

Matthias Quent: Die extreme Rechte in Thüringen, 2005

Baseballschlägerjahre

Die neunziger Jahre in Ostdeutschland sind geprägt von rechter Gewalt gegen Linke, Migrant*innen und Menschen, die sich den Neonazis entgegenstellen. Erfurt ist keine Ausnahme.

Am 25. Juni 1990 trifft der 58-jährige Heinz Mädel bei einem Abendspaziergang auf eine Gruppe Neonazis. Unvermittelt greifen ihn zwei weibliche Neonazis von hinten an. Er geht zu Boden. Die beiden 18-jährigen Frauen treten weiter auf ihn ein und lassen ihn schließlich blutend am Boden liegend zurück. Ein junger Mann will Erste Hilfe leisten, doch eine der Frauen hat ihre Tasche vergessen und kommt zurück. Sie beschimpft den Ersthelfer und tritt erneut zu. Am 1. Juli 1990 erliegt Heinz Mädel seinen Verletzungen.

Die Täterinnen werden schnell gefasst und zur Untersuchungshaft nach Weimar verbracht. Aufgrund positiver Sozialprognosen werden die beiden Frauen 1991 nur zu Bewährungsstrafen verurteilt. (siehe Blinder Fleck Erfurt)

Rechte Gewalttaten in Erfurt

Am 26. Mai 1991 schlägt ein Skinhead in der Nähe von Erfurt einem sowjetischen Staatsangehörigen mit einem Baseballschläger so auf den Kopf, dass dieser einen Schädelbasisbruch erleidet. Am 19. August 1992 werden zwei Algerier in einer Erfurter Gaststätte angegriffen. Die Liste rechter Gewalttaten in Erfurt und Umgebung ist lang und reißt auch in den folgenden Jahren nicht ab.

„Antifa Nachrichten Thüringen“, 1995

Die Gewalt wird gesellschaftlich toleriert

Weite Teile der Nachwendegesellschaft tolerieren die jugendlichen Neonazis. Städtische Jugendclubs werden zu Treffpunkten von rechten Jugendlichen und erhalten weiterhin staatliche Unterstützung. So findet im Juli 1992 unter den Augen der Sozialarbeiter*innen das Festival „Rock gegen Links“ im Jugendclub Urne auf dem Erfurter Herrenberg statt. Ein Sozialarbeiter sagt später: „Die gut organisierte Ordnertruppe führte strenge Kontrollen durch. Die Ordner gehörten zum knallharten Kern der Erfurter Skinheads.“ (Fromm, 1993)
In dieser Situation, bedroht von einer immer stärker werdenden rechten Szene, beginnen auch die wenigen Migrant*innen in Erfurt sich zu organisieren und sich selbst zu schützen.

Migrantische Selbstorganisation

Für Rashid eröffnet die Freundschaft mit Donald neue Wege. Donald kommt auch aus einer binationalen Familie. Mit seiner Hilfe erobert sich Rashid seine Identität zurück. Durch Donald kommt er endlich in Kontakt mit anderen Migrant*innen in Erfurt. Anfang der neunziger Jahre fahren die beiden mit einer größeren Gruppe Angolaner und anderen Migrant*innen zu einem antirassistischen Fußballturnier nach Königs Wusterhausen. Auf dieser Fahrt lernt Rashid José Paca kennen. José Paca kennt die rassistischen Anfeindungen, denen die Kinder und Jugendlichen in Erfurt ständig ausgesetzt sind. Um sie zu stärken, organisiert er Fußballturniere und bietet ihnen Freizeiträume, in denen sie geschützt sind.

José Paca wird ein wichtiger Mentor für Rashid und die anderen. Hochachtungsvoll nennen sie ihn „den Ältesten“.

 

„Wenn Paca was gesagt hat, hat uns das meist stärker gemacht.“

Rashid Jadla über José Paca, „den Ältesten“, Mai 2020 in Erfurt

José Paca berichtet über seine Arbeit und sein Verhältnis zu den Jugendlichen mit migrantischem Elternteil.

Laut werden

Mit Rap und Hip-Hop die eigene Stimme erheben

Anfang der neunziger Jahre zieht Shar`Ifa Dietra Malik nach Erfurt. Die schwarze Musikerin und Jazzpoetin kommt aus den USA und bringt ein anderes, neues schwarzes Selbstbewusstsein in die Stadt. Sie initiiert Projekte für Kinder und Jugendliche aus migrantischen und binationalen Familien und ermutigt sie, selbst kreativ zu werden. Rashid und seine Freunde haben den US-amerikanischen Hip-Hop für sich entdeckt. Die Videos und Songs von Musikern und Bands wie Ice Cube und Da Lench Mob entstehen auf einem anderen Kontinent, aber treffen das Lebensgefühl einer ganzen Generation schwarzer Jugendlicher, auch in Deutschland. Ermutigt von Sharifa, beginnt Rashid selbst Raptexte zu schreiben. Die Schule hat er längst aufgegeben. Mit den Texten und der Musik sucht er sich selbst einen Ausweg.

„Dadurch dass meine Identität in meinem Leben so oft auf der Kippe stand oder überhaupt gar nicht vorhanden war oder unsichtbar war, hat mir die Musik geholfen, einfach ein Stück zu mir selbst zu kommen, auf jeden Fall auch einen Weg zu finden, mich auszudrücken.“

Rashid Jadla, Mai 2020 in Erfurt über die Texte seiner Songs

Wut und Agression in Kraft verwandeln

Rashid legt sich diverse Künstlernamen zu. Als Sonne Ra verarbeitet er auch seine Erfahrungen mit Rassismus zu Songtexten. „Wildes Tier“ entsteht, nachdem er mit seinen zwei kleinen Söhnen in der Straßenbahn beleidigt worden war. Er erinnert sich:

„Aus heiterem Himmel hat eine Frau, die völlig bürgerlich aussah, zu ihrem Mann gesagt, dass solche wie wir an die Wand gestellt gehörten oder verbrannt werden sollten. Und ich war so wütend, dass die sich das getraut hat überhaupt zu sagen. Ich hatte aber meine Söhne dabei und wusste nicht, was ich machen soll. Die haben das alles natürlich gar nicht verstanden. Und dann bin ich raus und war voll mit diesen negativen Energien und Wut und Hass. Ich hätte der Frau am liebsten den Hals umgedreht. Und dann bin ich nach Hause und hab irgendwie diese ganzen Schimpfwörter, die mir in dieser ganzen Zeit widerfahren sind, zusammengefasst, aus den Schimpfwörtern ein ganzes Lied gemacht – und spucke ihr diese ganzen Schimpfwörter ins Gesicht zurück.“

Stadträume aneignen

Mitte der neunziger Jahre kommen immer mehr Geflüchtete nach Erfurt. Das macht sich auch im Stadtbild bemerkbar. Der Anger ist der Platz, auf dem 1975 algerische Vertragsarbeiter*innen von einem deutschen Mob in das Postgebäude getrieben wurden. Nach der Wende ist er ein beliebter Treffpunkt für die Migrant*innen der Stadt. Seit seiner Sanierung lädt hier wenig zum Verweilen ein. Rashid beschreibt, welche Stärke für ihn von diesem Treffpunkt ausging.

„Es kam schon manchmal vor, dass die Rechten ihre Klappe halten mussten..“

Rashid Jadla über den Anger, Mai 2020 in Erfurt

Erinnerungen an den Anger, einen zentralen Platz in Erfurt. In den neunziger Jahren war er ein Treffpunkt für viele Migrant*innen. Foto: Jasper Kettner

Einen weiteren  Freiraum in der Stadt bietet das Autonome Jugendzentrum mit dem Platz um die Krämerbrücke. Hier treffen sich vor allen Punks und verbringen ihre Tage und Nächte mitten in der Erfurter Altstadt. Vielen sind die „Chaoten“ ein Dorn im Auge. Für Rashid bedeutet es einfach, einen Ort zu haben, an dem er nicht ständig mit rassistischer und rechter Gewalt konfrontiert ist.

„Hier waren die Punker, da hat sich kein Rechter so leicht hingetraut.“

Rashid Jadla über das AJZ, Mai 2020 in Erfurt

Erinnerungen an das Autonome Jugendzentrum und den Platz an der Krämer Brücke, in den neunziger Jahren ein Treffpunkt für Punks, Fotos: Nico Paul

Die jüngere Generation

1982 wird Josina Monteiro als Tochter eines mosambikanischen Vertragsarbeiters und einer deutschen Erfurterin geboren. Sie ist nur sechs Jahre jünger als Rashid, aber ihre Kindheit verläuft ganz anders. Gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern wächst sie ebenfalls in einem Erfurter Neubauviertel auf. Als Kind einer großen deutsch-mosambikanischen Familie nimmt sie damals kaum Ausgrenzung oder Rassismus wahr.

  • Josina Monteiro mit Eltern und Geschwistern

  • Josina Monteiro mit ihrem Vater, 1982

  • Josina Monteiro mit ihrem Vater und Geschwistern

Hip-Hop in Erfurt

Rashid gehört aus Josinas Sicht zu den Großen. Als Teenagerin geht sie auf die Hip-Hop-Partys, die er mit seiner Gruppe organisiert. Sie nennen sich „afrotainment“. Von dem Freiraum, den Rashid mit seinen Freund*innen erkämpft hat, profitiert die jüngere Generation migrantischer Jugendlicher in Erfurt.

Foto: afrotainment

„Ich kenne ihn, weil er immer da war.“

Josina Monteiro über Rashid Jadla, Erfurt Mai 2020

Josina Monteiro und Rashid Jadla berichten über die Hip-Hop-Partys der neunziger Jahre in Erfurt.

Migrantisches Erfurt

Erfurt hat sich seit der Kindheit Rashids stark verändert. Die Stadtgesellschaft und auch das Stadtbild haben sich mehr und mehr migrantisiert. Heute leben in dem Plattenbauviertel, in dem Rashid aufgewachsen ist, sehr viele migrantische Familien. Geflüchtete sind neu hinzugezogen. Sie haben Geschäfte, Friseursalons und Restaurants in der Altstadt eröffnet, ihre Kinder gehen in die Schulen und Kindergärten. Diese neue, diverse Realität ertragen Rechtspopulisten, Nazis und rechte Gewalttäter weiterhin nicht. Rechte Gewalt ist deshalb noch lange nicht verschwunden. Sie stellt weiterhin eine gefährliche und lebenseinschränkende Bedrohung dar.

Es ist besser geworden in Erfurt, aber die Stimmung aktuell im ganzen Land lässt darauf schließen, dass es auch in Erfurt irgendwann vielleicht zu einem Ausbruch von Gewalt kommt.“

Rashid Jadla, Mai 2020 in Erfurt

Sonne Ra x Dramadigs – Flücht-Inge (Official Video), Kamera & Schnitt: Arvid Wünsch