#saytheirnames: Klaus-Dieter Gerecke, Rainer Gerecke, Eckhard Rütz, Horst Diedrich
Mehr als eine Viertelmillion Menschen sind derzeit in Deutschland wohnungslos. Die Erfahrungen von Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt prägen ihren Alltag. Mehr als 580 wohnungslose Menschen sind laut Recherchen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe in den vergangenen 30 Jahren durch Gewalttaten gestorben – wobei die Anzahl durch nicht erkannte und nicht angezeigte Tötungsdelikte gegen Wohnungslose nach Einschätzungen von Beratungsstellen und Strafverfolgungsbehörden deutlich höher liegt.
Klaus-Dieter Gerecke – gestorben am 24. Juni 2000 mit 47 Jahren –, sein älterer Bruder Rainer Gerecke – gestorben am 1. April 2000 mit 49 Jahren – und Eckhard Rütz – gestorben am 25. November 2000 mit 42 Jahren – gehören zu denjenigen Wohnungslosen, die zur Jahrtausendwende Opfer tödlicher rechter und sozialdarwinistisch motivierter Angriffe wurden.
In den Erinnerungen ihrer Freunde und Weggefährten in Greifswald sind die drei Männer sehr lebendig.
„Klaus war ein Unikat von Greifswald.“
Ingo Stehr und Reiner E. erinnern sich an Klaus-Dieter und Rainer Gerecke sowie Eckhard Rütz, November 2021 Tagesstätte der Diakonie in Greifswald
„Arbeitsverweigerung“ und soziale Ausgrenzung
Eckhard Rütz und die Brüder Klaus-Dieter und Rainer Gerecke sind als Menschen ohne feste Arbeitsverhältnisse schon in der DDR mit dem Stigma von gesellschaftlicher Abwertung und staatlichen Zwangsmaßnahmen konfrontiert gewesen. In den 1990er Jahren verlieren Eckhard Rütz und Klaus-Dieter Gerecke – wie viele andere auch – ihren Wohnraum und Gelegenheitsarbeitsmöglichkeiten und leben bis zu ihrem Tod – von zeitlich begrenzten Aufenthalten in Wohnungslosenunterkünften abgesehen – überwiegend bei Verwandten und Freunden, in Abrisshäusern und auf öffentlichen Plätzen in der Innenstadt von Greifswald. Innerhalb von nur neun Monaten sterben alle drei: Klaus-Dieter Gerecke und Eckhard Rütz werden am 24. Juni 2000 und am 25. November 2000 von Gruppen junger Rechter und Neonazis grausam zu Tode gefoltert, Rainer Gerecke stirbt am 1. April 2000 unter bis heute ungeklärten Umständen nach einem mutmaßlich sozialdarwinistisch motivierten Angriff. Während Eckhard Rütz 2009 offiziell als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt wird, wird Klaus-Dieter Gerecke diese Anerkennung bis heute verweigert bleiben. Im Fall des gewaltsamen Todes seines Bruders geben sich die Ermittlungsbehörden wenig Mühe, nach den Tatverdächtigen zu fahnden.
Klaus-Dieter Gerecke (links mit Beutel) und Rainer Gerecke in den 1990er Jahren bei einem Ausflug der Tagesstätte für Wohnungslose (Foto: privat)
Der 1952 geborene Klaus-Dieter Gerecke und sein zwei Jahre älterer Bruder Rainer leben als Kinder im sogenannten Brinkhof, einer Siedlung zwischen Brinkstraße und Bleichstraße in Greifswald, die zurückgeht auf das „Stephanische Convent“, das städtische Armenhaus. Der heute noch teilweise vorhandene im 19. und 20. Jahrhundert erbaute Gebäudekomplex für bedürftige Familien wird auch noch in der DDR für sozial stigmatisierte und arme Familien genutzt. Die Rufe „Achtung, die Brinkhöfer kommen“ begleiten die Kinder und Jugendlichen der Siedlung – auf den Spiel- und Sportplätzen, in den Schulen und auf der Straße. Gesellschaftlich sind sie damit schon früh stigmatisiert und ihre Chancen auf einen sozialen Aufstieg und Bildung eingeschränkt. Zeitweilig werden die Brüder Klaus-Dieter und Rainer Gerecke aus der Obhut der alleinerziehenden Mutter genommen und in städtischen Kinderheimen untergebracht.
„Hier im Brinkhof, da wurde gar nicht groß geguckt nach den Kindern, die da geboren wurden. Die kamen zur Schule, und hatten sie soziale oder schulische Probleme, wurden sie sofort abgeschoben in die Hilfsschule. Da wurde gar nicht probiert, ist da einer, der da tüffig ist, der gut ist … Da hatte man von Geburt an schon die Minuspunkte. Sofort! Die waren stigmatisiert, und damit war’s das. Die sind alle doof, und fertig war’s.“
„Zu DDR-Zeiten war der Brinkhof verrucht .“
Ingo Stehr und Reiner E. erinnern sich an den Brinkhof zur DDR-Zeit, November 2021 Tagesstätte der Diakonie in Greifswald
Nach dem Ende der Schulzeit beginnen Klaus-Dieter und Rainer Gerecke in einem Schlachthof der VEB Schweinemast zu arbeiten. Klaus-Dieter Gerecke wechselt dann für kurze Zeit zur Müllabfuhr und schlägt sich danach überwiegend mit Gelegenheitsarbeiten durch. Seine Mutter und Großmutter unterstützen ihn. Beim „Umherbummeln im Stadtgebiet“ wird er im Jahr 1973 mit zwei Freunden erstmals von der Polizei aufgegriffen. Die drei werden unter Berufung auf den sogenannten „Asozialen-Paragrafen“, § 249 des Strafgesetzbuches der DDR, zu eineinhalb Jahren Arbeitshaus mit Zwangsarbeit verurteilt. „Ein parasitäres Leben auf Kosten der Gesellschaft kann nicht geduldet werden“, heißt es im Urteil. Das Ziel: Den Teenagern soll gemäß den starren Arbeits- und Ordnungsvorstellungen des DDR-Regimes Pflichtbewusstsein beigebracht werden.
Wegen „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten“, so der Wortlaut des seit 1968 im Strafgesetzbuch der DDR verankerten § 249, werden 1973 insgesamt 14.000 Menschen in Haft genommen. Anlass für die Verhaftungswellen sind die Weltjugendfestspiele in Ost-Berlin und der Wunsch der DDR-Führung, den öffentlichen Raum von „kriminellen und ›asozialen‹ Personen zu säubern“.
In den letzten Jahren der DDR sind knapp ein Viertel aller Inhaftierten in DDR-Gefängnissen nach diesem Paragrafen verurteilte Jugendliche und Erwachsene. Im Wortlaut des Paragrafen heißt es:
„Wer das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger oder die öffentliche Ordnung dadurch gefährdet, daß er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit hartnäckig entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist, oder wer der Prostitution nachgeht […], wird mit Verurteilung auf Bewährung oder mit Haftstrafe, Arbeitserziehung oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft.“
In der DDR wird damit nahezu bruchlos an die nationalsozialistische Verfolgung von vermeintlich arbeitsscheuen Menschen angeknüpft. Die DDR-Verfassung schreibt die Verpflichtung zu einer der Gesellschaft nützlichen Tätigkeit für alle arbeitsfähigen Bürger*innen vor. Diejenigen, die dem staatssozialistischen Arbeitsethos nicht bedingungslos Folge leisten können oder wollen, kriminalisiert die DDR-Regierung ab 1968 mithilfe von Paragraf 249. Schnell wächst die Zahl der Verurteilungen von Jugendlichen aus der sogenannten Hippie- oder Langhaarigenbewegung sowie von Jugendlichen und Erwachsenen, die sich in oppositionellen und regimekritischen Kirchen- und Bürger*innenrechtsgruppen engagieren. Gewaltfreie politische Aktionen – etwa Mahnwachen gegen Aufrüstung – werden als Verstoß gegen § 249 StGB gewertet, den Beteiligten wird „asoziales Verhalten“ vorgeworfen. Sie werden auch nach der Haftentlassung stigmatisiert und mit strengen Melde- und Wohnsitzauflagen, Hausdurchsuchungen und ständigen Kontrollen sowie zugewiesenen Arbeitsplätzen schikaniert.
„Ich war im Knast wegen Fehlstunden. Hat schon gereicht für Paragraf 249, weil: Dann hast du nicht dem sozialistischen Menschenbild entsprochen.“
Nach seiner ersten Entlassung aus dem Arbeitshaus wird Klaus-Dieter Gerecke bis zum Ende der DDR 1989 noch mehrfach wegen „Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten“ in Haft genommen. Dennoch wechselt er weiterhin häufiger seine Arbeitsstellen, nimmt sich Auszeiten oder verdient seinen Lebensunterhalt durch Schrottsammeln. Die ständige Androhung von Repression und Arbeitszwang und der Anpassungsdruck bei den wechselnden Arbeitsorten zermürben den jungen Mann. Er lebt in einer baufälligen Wohnung ohne Heizung. Aus Hunger habe er immer wieder kleinere Diebstähle begangen, berichtet er bei einer erneuten Inhaftierung 1986 im wegen harter Haftbedingungen gefürchteten Gefängnis Bützow.
Auch der ältere Bruder Rainer Gerecke ist zu DDR-Zeiten von Armut betroffen. Nach einer Kneipennacht stiehlt er spontan bei seinem Arbeitgeber, dem VEB Schweinemast, frische Würstchen. Ein anderes Mal sind es Brötchen und frische Milch. Mit jedem Gesetzesverstoß und jeder anschließenden Verhaftung und Verurteilung fallen die Haftstrafen höher aus. Rainer Gerecke wird aggressiv und gewalttätig gegen andere. Nachdem er bei einem Streit mit einem Nachbarn zur Axt greift und den Mann schwer verletzt, wird er wegen versuchten Mordes verurteilt und in eine Psychiatrie eingewiesen, aus der er erst in den 1980er Jahren entlassen wird.
Wenige Wochen nach der Maueröffnung am 9. November 1989 erlässt der noch amtierende Staatsrat der DDR am 6. Dezember 1989 eine Amnestie für alle Bürger*innen, die wegen Verstoßes gegen § 249 StGB der DDR verurteilt und inhaftiert worden waren. Das bedeutet auch für Klaus-Dieter Gerecke, dass er nicht länger als verurteilter Straftäter gilt. Doch auch wenn für Klaus-Dieter Gerecke und seinen älteren Bruder mit dem Ende der DDR der mit drakonischen Strafen durchgesetzte Arbeitszwang entfällt, macht ihre Lebensweise die Brüder nun zur Zielscheibe von sozialdarwinistischen und rechten Angriffen und Verachtung – so wie viele der rund 300 bis 400 Wohnungslosen in der nach 1990 auf 56.000 Einwohner*innen geschrumpften Hansestadt Greifswald.
Menschliche Wärme, Offenheit und materielle Unterstützung finden Klaus-Dieter Gerecke und sein älterer Bruder Rainer in der „Teestube“, einer Tagesstätte für Wohnungslose der Diakonie in der Wollweberstraße in der Greifswalder Altstadt, und in deren Nachtcafé. Hier können sie sich aufwärmen, eine warme Suppe löffeln, mit den anderen Besucher*innen, ehrenamtlichen Helfer*innen und den Sozialarbeiter*innen klönen und finden professionelle Hilfe für ihre Probleme mit Behörden. Nach der Verdrängung ärmerer Einwohner*innen aus der sanierten Innenstadt zieht auch die Tagesstätte in den Greifswalder Stadtteil Schönwalde um. Bis heute finden dort Menschen ohne festen Wohnsitz einen warmen und sicheren Ort. Viele ehemalige Wohnungslose, die mit Unterstützung der „Teestube“ und der Diakonie eine Wohnung gefunden haben, unterstützen jetzt andere Betroffene und verstärken des Team. Bei den vom Team der „Teestube“ organisierten Zeltausflügen sind Rainer und Klaus-Dieter Gerecke oft dabei: Die beiden Brüder fahren mit nach Usedom oder Hiddensee – Orte, die für sie sonst kaum erreichbar geblieben wären.
Artikel mit einem Foto von Klaus-Dieter Gerecke über das Nachtcafé der Diakonie in Greifswald (Ostsee-Zeitung vom 20. Februar 1997)
Rechte Gewalttaten durch Neonaziskinheads sind in Greifswald in den 1990er Jahren Alltag. Große Gruppen organisierter Neonazis greifen Flüchtlingsunterkünfte und von Punks und Antifaschist*innen besetzte Häuser an, verüben Sprengstoff- und Brandanschläge. Die „Greifswalder Nationalsozialisten“ (GNS) um den 1993 wegen gemeinschaftlich versuchten Mordes an einem marokkanischen Studierenden zu einer kurzen Haftstrafe verurteilten späteren NPD-Kreisvorsitzenden Maik Spiegelmacher schüren ein Klima der Angst und Dominanz – auch in den eigenen Reihen. Weil sich Polizei, Justiz und Stadtverwaltung den Neonazis kaum wahrnehmbar entgegenstellen und rechte Gewalt entpolitisieren und kleinreden, haben Neonazis einen enormen Einfluss auf die Entstehung einer rechtsextremen Jugendkultur: Zehnjährige stoßen zu den Neonazi-Kameradschaften und dekorieren ihre Kinderzimmer mit Hakenkreuzfahnen und Hitler-Büsten. Hilflose Pädagog*innen in Schulen und in den städtischen Jugendklubs überlassen unter dem Deckmantel „akzeptierender Sozialarbeit“ Neonazikadern nicht nur die Infrastruktur, sondern eine ganze Generation von Kindern und Jugendlichen.
Die Spielräume und der Einfluss der Neonazis erweitern sich, als Maik Spiegelmacher den Kreisvorsitz der NPD übernimmt und das Strategiekonzept der „national befreiten Zonen“ umsetzt. Die inzwischen eingestellte Zeitung „Die Woche“ resümiert im Sommer 2000 unter dem Titel „Zonen der Angst“: Greifswald sei eine „von Neonazis erfolgreich unterwanderte Stadt“. Deren Angebote erreichen zur Jahrtausendwende sehr unterschiedliche Zielgruppen. Studierende etwa werden über die rechtsextreme Burschenschaft Rugia geworben, die eng mit der NPD verbunden ist. Die Neonazipartei setzt ihr Motto „Kampf um die Straße, Kampf um die Köpfe und Kampf um die Parlamente“ in Mecklenburg-Vorpommern ab Ende der 1990er Jahre auch durch eine strategische Allianz mit den bis heute tonangebenden neonazistischen Freien Kameradschaften um – wie etwa dem Kameradschaftsbund Anklam (KBA) aus dem NSU-Unterstützer*innen-Netzwerk von „Blood & Honour“. Außer Maik Spiegelmacher übernehmen auch andere gewalttätige Neonazis wichtige Funktionen in der NPD in Mecklenburg-Vorpommern und schaffen mit der Gründung von rechten Bürgerinitiativen, Schülergruppen und Angeboten wie öffentlichen Kinderfesten und Sozialberatungsstunden in sogenannten Bürgerbüros eine vermeintlich bürgerliche Fassade. Trotz breiter antifaschistischer und zivilgesellschaftlicher Proteste und Demonstrationen gegen Neonazi-Aufmärsche und Aktionen vor allem in Greifswald, Rostock und anderen Städten gelingt der NPD 2006 der Einzug in den Schweriner Landtag und die Mehrheit der Kreistage. Nach zwei Legislaturperioden im Landtag scheitert die NPD erst 2016 mit dem Aufstieg der AfD an der Fünfprozenthürde.
„Das war ja Wahnsinn, das war ja ungebremste Gewalt. Da war nichts mehr von Empathie zu spüren, nichts mehr. Da war null. Die 2000er Jahre, die waren schlimm. Aber nicht nur in Greifswald – Stralsund genauso, und Wolgast. Weiß nicht, was da in dem Augenblick los war. Warum das so explodiert ist mit der Gewalt. Kann ich nicht sagen. Wir haben es von den Berbern gehört, die dann oft bei uns aufgelaufen sind, dass viel unterwegs passiert ist. Da herrschte Angst.“
Immer wieder richtet sich rechte Gewalt – insbesondere von jüngeren Naziskinheadcliquen – auch gegen Wohnungslose. Sie gelten als wehrlos und „leichte Opfer“, denen im Weltbild der extremen Rechten das Existenzrecht abgesprochen wird. Kurz vor Weihnachten 1996 verabreden sich vier jugendliche Naziskins im Alter von 14 bis 16 Jahren, unter anderem mit Messern und Latten bewaffnet, zu einem gezielten Jagd- und Raubzug gegen sogenannte „Assis“ in Greifswald. Eines ihrer Opfer: Horst Diedrich, der in einem Abrisshaus Schutz vor der Kälte gesucht hatte. Dreimal innerhalb von vier Tagen kehren die vier Jugendlichen in das Abrisshaus zurück. Immer wieder schlagen, treten und stechen sie auf den wehrlosen und zuletzt schwer verletzten Horst Diedrich ein. Am 1. Januar 1997 finden Passant*innen seine Leiche. Im Dezember 1997 verurteilt das Landgericht Stralsund den wegen Verbreitung von Kennzeichen nationalsozialistischer Organisationen und Körperverletzungsdelikten vorbestraften 15-jährigen Haupttäter zu fünfeinhalb Jahren Jugendhaft wegen schwerer räuberischer Erpressung und gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge. Die Mittäter werden zu vier Jahren Jugendstrafe und einer zweijährigen Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt.
Über Horst Diedrich ist bislang weniger bekannt. Obwohl die Misshandlungen, die zu seinem Tod geführt hatten, von rechtem Sozialdarwinismus geprägt sind, ist Horst Diedrich bisher nicht als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt.
Der gewaltsame Tod von Horst Diedrich und die eskalierende Gewalt gegen Wohnungslose erzeugen ein Klima der Angst und Unsicherheit. Für Wohnungslose wie Rainer und Klaus-Dieter Gerecke ist es daher existenziell, sich vor allem im „sichereren“ Innenstadtbereich aufzuhalten.
Klaus-Dieter Gerecke
Klaus-Dieter Gerecke lebt im Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung manchmal bei seinem Bruder Rainer, oft aber in verlassenen Häusern oder auf der Straße. Er baut sich dann selbst regensichere Unterstände. Wenn Klaus-Dieter Gerecke mit seinem Plastikbeutel über der Schulter und dem Kinderwagen voller Leergut durch die Innenstadt von Greifswald zieht, wechseln einige Menschen die Straßenseite. Andere grüßen den unter seinem Spitznamen „Kläuser“ stadtbekannten Mann mit dem warmherzigen Lächeln unter dem Vollbart freundlich – viele kennen ihn vom Sehen. Er sitzt oft vor der Mensa am Wall, schnorrt sich eine Zigarette von Studierenden und kommentiert lauthals tagespolitische Ereignisse oder Fußballspiele.
Klaus-Dieter Gerecke, wenige Monate vor seinem Tod, im Frühsommer 2000 (Foto: Peter Binder)
„Er war ein herzensguter Mensch. Bis heute habe ich nicht begriffen: Warum haben sie ihn umgebracht?“
Ingo Stehr und Reiner E. erinnern sich an Rainer und Klaus-Dieter Gerecke, November 2021 Tagesstätte der Diakonie in Greifswald
Der unaufgeklärte Tod von Rainer Gerecke
Am 1. April 2000 stirbt Rainer Gerecke im Alter von nur 49 Jahren unter bis heute ungeklärten Umständen. Der Tod des älteren Bruders ist für Klaus-Dieter Gerecke ein schwerer Schicksalsschlag. Jedem in der Stadt erzählt er danach, wie er Ende März 2000 mit seinem Bruder Rainer Gerecke unterwegs ist, als Rainer von einem Auto am Straßenrand angefahren und verletzt wird. Aus dem Auto steigt eine Gruppe junger Männer, die sich in der Stralsunder Straße öfter an einer Tankstelle treffen. Sie laden Rainer Gerecke in ihr Auto ein – angeblich, um ihn zur Behandlung seiner Verletzungen ins Krankenhaus zu bringen. Doch dort kommt Rainer Gerecke niemals an. Stattdessen wird er mit schwersten Verletzungen von einer Autofahrerin an einer Landstraße unweit der rund 80 Kilometer von Greifswald entfernten Stadt Teterow gefunden. Im Krankenhaus stellen die Ärzt*innen fest, dass Rainer Gerecke mehrmals angefahren wurde. Er stirbt kurz nach der Einlieferung an den Folgen dieser Verletzungen. In seiner Jackentasche finden Polizist*innen einen Flyer der Diakonie in Greifswald und benachrichtigen das Team aus der Tagesstätte für Wohnungslose. Dort erfährt Klaus-Dieter Gerecke vom Tod seines Bruders. Schon kurze Zeit später stellen Polizei und Staatsanwaltschaft die Ermittlungen zu den genauen Todesumständen und mutmaßlichen Tätern ein.
Für Rainer Gerecke gibt es eine Trauerfeier, an der Weggefährt*innen und Besucher*innen der Diakonie-Tagesstätte teilnehmen. Klaus-Dieter Gerecke hält am Grab eine Ansprache. „Da liegt mein Bruder. Er war der Beste.“
Wie Rainer Gerecke – ohne eigenes Fahrzeug und angesichts seiner Vorverletzungen – an den eine Autostunde von Greifswald entfernten Ort gekommen war, an dem er aufgefunden wird? Ob die Ermittlungsbehörden sich überhaupt darum bemühen, die Tankstellen-Clique zu befragen? Bis zu seinem eigenen gewaltsamen Tod wenige Monate später erhält Klaus-Dieter Gerecke auf die vielen Fragen zum Tod seines Bruders keine Antworten mehr.
Am Abend des 24. Juni 2000 ist Klaus-Dieter Gerecke auf dem Weg in die Gützkower Straße. Unterwegs begegnet er einem Trio aus der rechten Szene in Greifswald: zwei 18-jährigen Mädchen und einem drei Jahre älteren Neonazi. Die drei verfolgen Klaus-Dieter Gerecke sofort, beschimpfen ihn und verlangen von ihm, Geld und sein Bier auszuhändigen. Dann beginnt eine Gewaltorgie. „Da ist der Assi, klatsch ihn tot!“, rufen die beiden Mädchen. Auf einer Brachfläche ist Klaus-Dieter Gerecke mehr als eine Stunde lang erbarmungslosen Tritten und Schlägen ins Gesicht und in den Bauch ausgesetzt. Auch als er schon bewusstlos und schwer verletzt am Boden liegt, hört die Gewalt nicht auf. Andere Jugendliche, die mit ihren Mopeds an der Brachfläche vorbeifahren, beobachten die Misshandlungen an Klaus-Dieter Gerecke ohne einzugreifen. Als sie die Täter*innen fragen, was sie dort machten, lautet die trockene Antwort: „Penner wegschlagen“. Als zwei der Täter*innen schließlich den Notarzt verständigen und sich dabei als Spaziergänger*innen ausgeben, ist Klaus-Dieter Gerecke bereits tot.
Im Prozess am Landgericht Stralsund erklärt der 21-jährige Haupttäter auf die Frage des Vorsitzenden, warum er nicht aufgehört habe: Er könne in solchen Momenten einfach kein Ende finden. Fragen zu möglichen rechten Tatmotiven und ihrer Zugehörigkeit zur rechten Szene werden den Angeklagten weder durch die Staatsanwaltschaft noch das Gericht gestellt. Eine Nebenklagevertretung gibt es nicht. Schließlich übernimmt das Gericht unhinterfragt die Schutzbehauptung der Angeklagten, es habe sich lediglich um eine Streitigkeit um Geld und Alkohol gehandelt. Im Dezember 2000 verurteilt das Landgericht Stralsund den 21-Jährigen schließlich zu siebeneinhalb Jahren Haft wegen Totschlags. Die beiden jungen Frauen werden nach dem Jugendstrafrecht wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu zwei Jahren Haft verurteilt, die auf Bewährung ausgesetzt werden. Sie können den Gerichtssaal verlassen und ihre Ausbildungen weiterführen. Die jugendlichen Mopedfahrer, die den Tod von Klaus-Dieter Gerecke nicht verhindert hatten, werden nicht ermittelt.
Im schriftlichen Urteil setzt sich das Gericht an keiner Stelle mit einem sozialdarwinistischen Motiv und der in der rechtsextremen Gesinnung der Täter*innen begründeten Verachtung für Obdachlose auseinander. Stattdessen beschreibt das Gericht alle Merkmale sozialdarwinistischer Gewalt durch den Haupttäter und merkt an, „dass dieser trotz seiner Vorstrafen, seiner Hafterfahrung und der laufenden Bewährungszeit die Misshandlungen an Klaus-Dieter Gerecke begangen hat, die im Übrigen von einer enormen Brutalität, einer langen Zeitdauer und von einem Verhöhnen des Opfers geprägt waren.“ Erst zehn Jahre nach dem gewaltsamen Tod von Klaus-Dieter Gerecke räumt ein Pressesprecher der zuständigen Polizeidirektion Anklam ein: „Von der Motivlage her ging es aber eindeutig gegen Obdachlose.“
Leben mit Abstürzen: Eckhard Rütz
Für Eckhard Rütz beginnt die Zeit der Wohnungslosigkeit kurz vor der Jahrtausendwende. Der 1958 in Greifswald geborene gelernte Landmaschinenschlosser wächst mit einer älteren und einer jüngeren Schwester zeitweise im Brinkhof auf. Freunde erinnern sich, dass Eckhard Rütz gerne in die Disco ging und dass er schon als 14-Jähriger zuviel Alkohol trank. Dennoch schafft er sowohl einen Schulabschluss als auch eine Lehre zum Landmaschinenschlosser in Stralsund.
Ausweisfoto von Eckhard Rütz, 1990er Jahre
Als Jugendlicher wird Eckhard Rütz 1976 beim Fahren von geklauten Mopeds und beim Versicherungsbetrug erwischt. Achtzehn Monate Jugendarrest sind die Konsequenz. Später arbeitet er in einer Werkstatt, im VEB Sekundärstoffe und in der Zuckerfabrikation. Bis zum Tod seiner Mutter im Jahr 1994 lebt Eckhard Rütz mit ihr in einer Wohnung. Doch als sich die Beschwerden der Nachbarn über Lärmbelästigungen und Alkoholexzesse häufen, muss Eckhard Rütz die Wohnung 1997 räumen. Er kommt in einer Wohngemeinschaft der Diakonie unter und wird zu dieser Zeit als starker Alkoholiker beschrieben. Im Oktober 1999 beginnt er einen Entzug und zieht in eine betreute Wohneinrichtung für Suchtkranke um. Doch nach einem halben Jahr bricht der inzwischen 42-Jährige den Entzug ab und schläft von nun an auf der Straße.
„Eckhard war sehr gastfreundlich, wenn man ihn besuchte.“
Ingo Stehr und Reiner E. erinnern sich an Eckhard Rütz, November 2021 Tagesstätte der Diakonie in Greifswald
Der Mord an Eckhard Rütz
In den späten Nachtstunden des 24. November 2000 liegt Eckhard Rütz neben einer Telefonzelle an der Alten Mensa der Universität in der Greifswalder Innenstadt, als drei junge Neonazis aus dem Kreis der damaligen NPD- und Kameradschaftsszene ihn ansprechen. Die 16- bis 21-Jährigen waren schon als 10- und 11-Jährige in Kontakt mit den Neonazistrukturen in Greifswald gekommen. Ihre Kinderzimmer sind mit Hakenkreuzfahnen und Adolf-Hitler-Porträts dekoriert. Sie tragen Tätowierungen mit dem Zahlenkürzel „88“ und SS-Runen, besuchen Rechtsrock-Konzerte, wo gegen „Asoziale“, Geflüchtete und Linke gehetzt wird, und Treffen der NPD.
Zunächst fragen sie Eckhard Rütz: Ob er nicht von „Kläuser“ gehört habe, er solle sich in der Dunkelheit lieber einen anderen Platz suchen. Eckhard Rütz bleibt an seinem Stammplatz liegen. Sie hätten dem 42-Jährigen „eine Lektion erteilen“ wollen, „weil so einer wie Rütz dem deutschen Steuerzahler auf der Tasche liegt“, erklären die 16- bis 21-jährigen Neonazis später. Sie reißen dicke Baumstützpfähle aus, mit denen sie auf den Wehrlosen einschlagen, und treten so lange auf ihn ein, bis er keine Regung mehr zeigt. Dann lassen die Angreifer von ihm ab. Doch als sie erkennen, dass Eckhard Rütz noch Lebenszeichen von sich gibt, kehren sie laut schriftlichem Urteil „aus Angst vor einer Anzeige“ zurück und treten erneut auf ihn ein. Ein Notarzt kann später nur noch seinen Tod feststellen. Bei der Obduktion fällt auf, dass der Kopf von Eckhard Rütz völlig zertrümmert ist.
Im Juni 2001 verurteilt das Landgericht Stralsund die drei Angeklagten, von denen einer bis kurz vor der Tat noch Mitglied der NPD gewesen war, wegen Mordes an Eckhard Rütz: Der 16-jährige Haupttäter erhält siebeneinhalb Jahre Haft, seine 16- und 21-jährigen Mittäter jeweils unter Einbeziehung weiterer Straftaten sieben und zehn Jahre Haft. Mit dem Strafmaß bleibt das Gericht unter den Anträgen der Staatsanwaltschaft, die für die beiden Jugendlichen Haftstrafen von neuneinhalb beziehungsweise neun Jahren und für den vorbestraften 21-jährigen Angeklagten, der nach Erwachsenenstrafrecht behandelt wird, eine lebenslange Freiheitsstrafe gefordert hatte. Das Gericht jedoch wertet die umfassenden Geständnisse der Angeklagten als strafmildernd und betont, sie hätten in der Hauptverhandlung deutliche Reue gezeigt.
Bei der Bewertung des Motivs ist das Gericht im schriftlichen Urteil eindeutig: Die Angeklagten hätten sich wegen ihrer „nationalsozialistisch geprägten Gesinnung zu Herrn über Leben und Tod aufgeschwungen“ und ein aus ihrer Sicht „lebensunwertes Leben“ beenden wollen. Die Angeklagten hätten eine „Schlächter-Mentalität“ gezeigt, der Mord an Eckhard Rütz sei von „kaum zu überbietender Brutalität“ gewesen. Dennoch werten das Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern und das Schweriner Innenministerium den Mord an Eckhard Rütz erst als rechtsextrem motiviertes Tötungsdelikt, nachdem die Zeitungen Tagesspiegel und Frankfurter Rundschau ihn im Oktober 2001 in ihre Langzeitrecherche „Todesopfer rechter Gewalt“ aufnehmen.
Kaltblütige Folter: Sozialdarwinistisch motivierte rechte Gewalt
Nach den Morden an Rainer und Klaus-Dieter Gerecke und Eckhard Rütz sowie den Neonazi-Morden an zwei weiteren Wohnungslosen im Sommer 2000 in Mecklenburg-Vorpommern – Jürgen Seifert (42) am 9. Juli 2000 in Wismar und Norbert Plath am 24. Juli 2000 in Ahlbeck – herrscht unter Wohnungslosen in Greifswald große Angst vor weiteren Gewalttaten. Sie bilden Gruppen, um nachts nicht alleine auf der Straße zu sein und um sich gegenseitig zu schützen.
Abschied und Gedenken
Der gewaltsame Tod von Klaus-Dieter Gerecke erschüttert viele in Greifswald. Etwa dreihundert Menschen versammeln sich fünf Tage nach seinem Tod am Tatort. Viele von ihnen kennen „den Kläuser“ seit Jahren, haben mit ihm auf seinen Wegen durch die Altstadt oder in der Tagesstätte gesprochen und Zeit verbracht. „Zum Gedenken und Nachdenken“ steht auf einem weißen Banner, das Bekannte aus der Tagesstätte der Diakonie mitgebracht haben. Noch vor Ort beginnt eine Spendensammlung, die von Studierenden der Universität unterstützt wird und bei der mehrere Tausend Mark für eine würdige Beerdigung zusammenkommen. Am Tatort lässt der Eigentümer des Grundstücks mit Unterstützung eines Steinmetzes später einen Gedenkstein für Klaus setzen. Die Motivation: „Ihre persönliche Betroffenheit, die Verabscheuungswürdigkeit der Tat und die Notwendigkeit, über das Jahr 2000 daran zu erinnern.“
Auch bei einem Gedenkgottesdienst für „Kläuser“ zeigen sehr viele Weggefährt*innen, Freund*innen und Menschen, die Klaus-Dieter Gerecke aus dem Stadtbild kennen, ihre Anteilnahme: Matthias Gürtler, der Pastor der Domgemeinde St. Nikolai, und Greifswalds Oberbürgermeister Joachim von der Wense (CDU) halten Trauerreden und verurteilen Gewalt gegen Wohnungslose und die Ausgrenzung von vermeintlich sozial randständigen Menschen.
Im Anschluss an den Trauergottesdienst im Dom ziehen über tausend Menschen mit einem Schweigemarsch durch Greifswald, der von Freund*innen und Wegbegleiter*innen von Klaus-Dieter Gerecke organisiert wird. Das Studierendenmagazin „moritz“ der Universität Greifswald beschreibt in einem Nachruf für Klaus-Dieter Gerecke den offensichtlichen Widerspruch zwischen der Anteilnahme am Schicksal nach seinem Tod und der Teilnahmslosigkeit, die er und andere Wohnungslose zu Lebzeiten erfahren haben: „Inzwischen sprechen die Menschen von Klausi wie von einem alten Bekannten. Vergessen haben offensichtlich die meisten von ihnen, dass sie noch kurze Zeit vorher lieber einen Bogen um den kleinen bärtigen Mann gemacht hatten.“
„Es sind viele Tränen geflossen, von Menschen, von denen man das nicht gedacht hätte.“
Ingo Stehr und Reiner E. erinnern sich an die Beerdigungen von Rainer und Klaus-Dieter Gerecke, Kassandra E. spricht für die Gedenkinitiative „Schon vergessen?“ über das Gedenken an Eckhard Rütz, November 2021 in Greifswald
Ein Gedenkstein und ein Lied für Klaus
Nach dem Tod von Klaus-Dieter Gerecke wird aus dem Tatort ein Ort des Gedenkens, wo Menschen Kerzen und Blumen niederlegen. Wegbegleiter*innen aus der Tagesstätte der Diakonie, Bekannte, Studierende der Universität Greifswald, die Domgemeinde St. Nikolai sowie lokale Künstler*innen sammeln Geld für einen Gedenkstein und ermöglichen dadurch ein dauerhaftes Gedenken an Klaus-Dieter Gerecke.
Befreundete Wohnungslose und Bürger*innen schreiben Lieder und Gedichte für Klaus-Dieter Gerecke und veröffentlichen eine CD mit dem Titel „Für Klaus“.
Selbstorganisiertes Gedenken an Eckhard Rütz
Die große Anteilnahme am Tod von Klaus-Dieter Gerecke steht im starken Kontrast zu der Teilnahmslosigkeit, die auf den Mord an Eckhard Rütz wenige Monate später folgt. Das ändert sich erst, als im Jahr 2005 Jugendliche der Antifa Greifswald das Bündnis „Schon Vergessen?“ initiieren und ein öffentliches Gedenken für beide organisieren. Ausgangspunkte für das Bündnis sind die jeweiligen fünften Todestage von Eckard Rütz und Klaus-Dieter Gerecke. Seitdem gibt es in Zusammenarbeit mit der Domgemeinde St. Nikolai an jedem 25. November, dem Todestag von Eckhard Rütz, ein öffentliches Gedenken.
Aufruf zur Gedenkveranstaltung 2005
Auch der Gedenkstein am Tatort wird durch eine Spendenaktion der Initiative „Schon Vergessen?“ und mithilfe eines Solidaritätskonzerts von Sänger*innen und Liedermacher*innen wie Barbara Thalheim, Künstler*innen sowie mit lokalen Unternehmen realisiert. Die Stadt Greifswald beteiligt sich nicht an den Kosten. Anstelle der ursprünglich geplanten großen und weithin sichtbaren Stele für Eckhard Rütz wird aufgrund der Vorgaben der Stadtverwaltung ein am Boden liegender, flacher Stein installiert.
Gedenkstein für Eckhard Rütz am Mensavorplatz am Schießwall in Greifswald im Dezember 2021 (Foto: privat)
Politik der Vertreibung statt sicherer Orte
Auch Frank K. lebt seit vielen Jahren ohne eigene Wohnung in Greifswald. Er kannte Klaus-Dieter Gerecke und Eckhard Rütz aus dem Stadtbild. 21 Jahre nach den Morden an Klaus-Dieter Gerecke und Eckhard Rütz lebt Frank neben dem Gebäude der ehemaligen Uni-Mensa in der Greifswalder Innenstadt – nur wenige Meter von dem Ort entfernt, an dem Eckhard Rütz im November 2000 ermordet wurde. Frank ist schon mehrfach angegriffen worden, seitdem er auf der Straße wohnt. Er erlebt hautnah, wie die Stadtverwaltung mit Zwangsmaßnahmen gegen Wohnungslose im Innenstadtbereich vorgeht.
„Man ist sich nicht mehr sicher in dieser Welt.“
Frank K., am Gedenkstein für Eckhard Rütz, berichtet von seinem Leben auf der Straße, Dezember 2021 in Greifswald
Aufgrund eines Schufa-Eintrags findet Frank seit Jahren keine Wohnung. Sein Wunsch: ein sicherer Wohnort in der Innenstadt, wo er gut vernetzt ist mit Freund*innen und Unterstützer*innen. Am Stadtrand kennt er niemanden und sein Netzwerk würde wegfallen. Doch statt einer Wohnung erhält er regelmäßig Räumungsbescheide von der Stadtverwaltung Greifswald, die auch durchgesetzt werden.
In den frühen Morgenstunden des 25. November 2021, dem 21. Jahrestag der Ermordung von Eckhard Rütz, wird ein aktueller Räumungsbescheid der Stadtverwaltung gegen Frank K. mit der Aufforderung, seinen provisorischen Schlaf- und Schutzplatz an der Alten Mensa zu verlassen, vollstreckt. Dennoch beteiligt sich Frank K. abends an der Gedenkveranstaltung der Initiative und des Pfarrers der Jacobikirche für Eckhard Rütz. Er bringt Blumen und Kerzen mit und hält eine bewegende Ansprache, in der er über die Räumung wenige Stunden zuvor und seinen Wunsch nach mehr Solidarität und Achtsamkeit für Wohnungslose spricht. Zu viele Menschen würden wegsehen, wenn Wohnungslose angegriffen werden, nicht intervenieren und den Angegriffenen jede Hilfe verweigern.
„Solange wir in einer Gesellschaft leben, in der wir akzeptieren, dass Menschen nur durch möglichst effiziente Verwertbarkeit als wertvoll erachtet werden, solange wird Menschenwürde mit Nützlichkeit und daraus resultierender Daseinsberechtigung gleichgesetzt.“